"Sprecher seiner verlorenen Generation"

Rudolf Lüthe im Gespräch mit Katrin Heise · 07.11.2013
Die Erfahrung des Absurden sei nur der Ausgangspunkt und nicht das Ende der Philosophie von Albert Camus, sagt Rudolf Lüthe. Die Idee des Glücks von der Suche nach Sinn entkoppelt zu haben, sei eine der großen Leistungen des Literaturnobelpreisträgers, so der Kulturphilosoph.
Katrin Heise: Heute vor 100 Jahren wurde Albert Camus geboren. Aus diesem Anlass greifen wir einen der markantesten Gedanken des Schriftstellers und Philosophen auf, nämlich den über den Sinn des Lebens, die Absurdität des Lebens, formuliert in seinem Essay "Der Mythos des Sisyphos". Anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 1957 sagte Camus:

Albert Camus: Ich bin auf der Suche, und das teile ich mit vielen Menschen. Wir suchen in der Nacht, mit Zittern und Zagen, aber es gibt einen Weg. Es ist der Glaube an das Leben, trotz allem.

Heise: Sagte Albert Campus 1957. Einer, der sich eingehend damit beschäftigt hat, was Camus uns heute noch zu sagen hat, das ist der Kulturphilosoph Rudolf Lüthe, er ist Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau, und er hat ein Buch über das Denken von Camus und postmoderne Auseinandersetzung mit ihm geschrieben. Willkommen im "Radiofeuilleton", schönen guten Tag, Herr Lüthe!

Rudolf Lüthe: Ja, guten Tag, Frau Heise!

Heise: Ist Camus richtig verstanden wenn man sagt: Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst?

Lüthe: Ja, das ist richtig verstanden. Es bedürfte noch einiger Erläuterungen. Das Ganze findet ja vor der Idee der Absurdität statt. Diese wird geprägt durch die historischen und kulturellen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Campus ist da gewissermaßen der Sprecher seiner verlorenen Generation.

Heise: Die Frage nach dem Sinn des Lebens, also wirklich der Sinn, muss nicht unbedingt beantwortet, vor allem nicht positiv beantwortet werden, man muss nicht unbedingt einen Sinn im Leben sehen?

Lüthe: Das stimmt. Ich halte es für die erste große philosophische Leistung von Camus, dass er eine alte Kopplung von zwei verschiedenen Ideen, nämlich der Idee des Glücks und der Idee des Sinns, aufgebrochen hat. Das ist sozusagen der Kerngedanke dieses Buches "Der Mythos von Sisyphos". Man kann sehr wohl ein glückliches, gelingendes Leben führen, ohne dass man die Frage nach dem Sinn des Ganzen positiv beantwortet hat.

Heise: Was hat eigentlich den Intellektuellen 1942 – da ist "Der Mythos des Sisyphos" geschrieben, also erschienen –, was hat dem mitten im Krieg an diesen Gedanken gefallen, warum hat er sie gepackt?

"Grundstimmung seiner Zeit"
Lüthe: Aus zweierlei Gründen. Erstens, wie ich gerade sagte, darin drückt sich die existenzielle Erfahrung und die Grundstimmung seiner Zeit aus. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Vor dem Hintergrund des Absurden – und Camus betont, die Erfahrung des Absurden ist nur sein Ausgangspunkt, nicht das Ende seiner Philosophie –, da entwickelt er eine Glücksphilosophie. Und diese Glücksphilosophie war so etwas wie ein, ich will mal sagen, reservierter, positiver Gedanke.

Heise: Sie sagen, er ist der Sprecher seiner Generation, er ist der Vertreter einer Generation, die eben im Ersten Weltkrieg ihren Vater verloren hat, ohne Vater aufgewachsen ist, überhaupt die Schrecken des Ersten Weltkrieges so erlebt hat. Er gehört sozusagen zur Generation der Verzweifelten. Deswegen, aus der Verzweiflung heraus, musste Glück anders definiert werden?

Lüthe: Zweifellos. Es ist hier, glaube ich, wichtig, sich mit den anderen Seiten des Camusschen Werkes zu befassen, insbesondere mit den leider wenig gelesenen und kaum rezipierten literarischen Essays der frühen Phase. Dort entwickelt Camus das sogenannte "mittelmeerische Denken", dies ist ein Denken des rechten Maßes, und das wendet er auf die Erwartungen der Menschen an ihr Leben an: Wir können ein glückliches Leben nur dann leben, wenn wir es den realen Bedingungen unserer Existenz anpassen, und dazu gehört auch die Absurdität. Wir dürfen nicht zu viel erwarten, weder zu viel Gerechtigkeit, noch zu viel Freiheit, noch zu viel Glück.

Heise: Das ist interessant, weil wir uns ja jetzt auch damit befassen möchten: Was verstehen wir heute eigentlich darunter? Warum können wir mit dem Gedanken heute noch, oder können wir heute noch – vielleicht muss ich das erst mal als Frage formulieren –, können wir heute mit Camus' Gedanken nach dem Sinn des Lebens noch was anfangen vor dem Hintergrund, den Sie gerade genannt haben?

"Gedanke des rechten Maßes fasziniert auch heute"
Lüthe: Ja, ich glaube, wir können das. Ich glaube nicht, dass die junge Generation noch viel Verständnis dafür hat, dass man diese melancholische bis depressive Grundstimmung seinem Leben gibt. Wohl aber dieser Gedanke des rechten Maßes fasziniert auch heute noch und passt ja auch in bestimmte weltanschauliche Entwicklungen, wie zum Beispiel, dass wir bezüglich unseres Umgangs mit der Natur lernen müssen, Maß zu halten, dass wir mit unserem Gewinnstreben Maß halten müssen – das sind ja Tendenzen, die wir auch heute haben, und da finde ich bei meinen Studierenden ein offenes Ohr für Camus.

Wenig Verständnis haben sie für diesen Grundton, dass das Leben eine tragische und kaum zu bewältigende Aufgabe ist. Da sehen junge Leute das viel gelassener, man könnte sagen, fast schnoddrig würde man in dieser Generation auf die Feststellung, das Leben sei sinnlos, reagieren mit "Ja, und?" Und dann macht man halt weiter. Ich glaube, das ist eine ziemlich nüchterne, realistische Generation, die aber ihr Leben nicht tragisch nimmt, sondern mit einer ironischen Heiterkeit.

Heise: Sinnlehre und Glück bei Camus, und heute unser Thema mit dem Kulturphilosophen Rudolf Lüthe zum 100. Geburtstag von Albert Camus. Was Sie eben über Ihre Studenten gesagt haben, das Nachdenken über unsere realen Bedingungen ist das eine, das andere ist doch aber eigentlich – denn Camus hat ja auch eben von der Begrenztheit der Freiheiten gesprochen, die wir haben. Dagegen rebellieren wir doch nun alle. Also frei wollen wir doch nun sein und unsere Freiheit geht uns doch eigentlich über alles.

Lüthe: Das ist ja schon eine Form von Maßlosigkeit, die mit dem Camusschen Denken des mittelmeerischen Gedankens nicht mehr vereinbar ist.

Heise: Deswegen frage ich ja nach, denn dann passt es ja doch auf unsere Generation nicht so.

Lüthe: Ich glaube, es ist so: Wir können von einem Philosophen und sollen von einem Philosophen ja etwas lernen. Es nützt uns ja nichts, wenn wir von einem Philosophen unsere ganzen Fehler und Irrtümer bestätigt bekommen. Und insofern passt es schon. Er antwortet auf ein Problem, das wir haben, das wir auch mit unserer Freiheit haben, nämlich, dass wir glauben, sie sei nur dann verwirklicht, wenn sie vollständig verwirklicht ist. In dem Essay "Der Mensch in der Revolte" hat Camus ja bezüglich der politischen Freiheit da ebenfalls dran erinnert, dass auch das Streben nach einer solchen politischen Freiheit nur im rechten Maß erfolgen kann, weil es sonst zu inhumanen Konsequenzen führt.

Heise: Das heißt, er ist sich auch in dem Text treu geblieben?

"Ein Mensch mit charismatischen Zügen"
Lüthe: Oh ja. Das hat ihm ja leider sehr viel Ärger eingebracht, vor allen Dingen bei Sartre, aber nicht nur bei Sartre, bei den ganzen linken Intellektuellen in Frankreich wurde das mit Unverständnis aufgenommen. Der Grundgedanke ist ja der: Auch politische Revolutionen müssen Maß halten und sie dürfen sich nicht absolut setzen. Der oberste Wert bleibt das menschliche Leben. Das ist zu respektieren, auch dann, wenn man politische Umwälzungen durchführt. Manchmal ist es auch in Camus' Sicht unvermeidlich, dabei Menschen zu töten, aber man darf dies nicht in dem Bewusstsein tun, eine moralisch gerechtfertigte Tat zu tun, sondern man muss es mit dem schlechten Gewissen tun, dass man in einer tragischen, ausweglosen Situation ist. Und Camus warnt davor, von jeder Revolution eine Verbesserung der Verhältnisse zu erwarten.

Heise: Wie erklären Sie sich eigentlich, dass Camus zu einer intellektuellen, man kann ja schon fast sagen, Pop-Ikone seiner Zeit wurde? Also was hat einem Nachkriegseuropa also in den 1950er-Jahren tatsächlich da so verfangen?

Lüthe: Also Camus, glaube ich, ist ein Mensch mit charismatischen Zügen. Er hat sozusagen die Gabe gehabt, sich selber interessant zu halten. Er war ein sehr gutaussehender Mann, nicht wahr, ein Liebling der Frauen. Er war eine ungewöhnliche Gestalt, er ist ein Algerien-Franzose, der auffiel in dem intellektuellen Klima in Paris, er passte nicht so richtig hinein; er sprach auch nicht das gleiche gebildete Französisch wie die dortigen anderen Franzosen; und ihn umgab die Aura des Geheimnisvollen und Melancholischen. Ein bisschen übertrieben könnte man sagen: Er hat immer so einen exotischen Charakter behalten, den er aus Algerien mitgebracht hat. Und er war ein Mensch, der sich immer in Halbdistanz gehalten hat zu den anderen Personen seiner Umgebung – und das steigert das Interesse an einer Person.

Heise: Sagt der Kulturphilosoph Rudolf Lüthe. Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!

Lüthe: Sehr gerne!

Heise: Heute vor 100 Jahren wurde Albert Camus geboren.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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