SPD-Kanzlerkandidat

"Bisher kein politisches Argument für Schulz"

Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel (r) und Martin Schulz (SPD) geben am 24.01.2017 in Berlin in der SPD Zentrale eine Pressekonferenz.
Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel (r) und Martin Schulz (SPD) geben am 24.01.2017 in Berlin in der SPD Zentrale eine Pressekonferenz. © dpa/picture-alliance/Kay Nietfeld
Armin Nassehi im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 25.01.2017
Der Soziologe Armin Nassehi ist skeptisch, ob Martin Schulz wirklich der beste Kanzlerkandidat für die SPD ist. Angesichts der geringen Siegchancen der SPD hätte die Partei auch mehr Risiko gehen und etwas wirklich Neues ausprobieren können.
Der Soziologe Armin Nassehi hat sich skeptisch zur voraussichtlichen Nominierung von Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat geäußert.
Zwar könne es von Vorteil sein, dass Schulz von außen komme und auf wenig Dinge Rücksicht nehmen müsse, sagte Nassehi im Deutschlandradio Kultur. "Aber alleine die Frage der Lautstärke und der Möglichkeit, freier zu reden, werden die Dinge nicht entscheiden."

Welches politische Argument spricht für Schulz?

Bisher habe er noch kein politisches Argument für Schulz gehört, sondern lediglich ein demoskopisches: dass ein Kandidate Schulz offenbar besser ankomme als Sigmar Gabriel. "Daran zeigt sich vielleicht die ganze Not, in der gerade die sozialdemokratische Partei zurzeit ist, gar nicht so genau zu wissen, an welcher Front man eigentlich gewinnen muss, wen man eigentlich repräsentiert."
Angesichts der Tatsache, dass die SPD ohnehin nur geringe Chancen habe, die Wahl zu gewinnen, hätte man auch riskanter operieren und wirklich etwas Neues ausprobieren können, so Nassehi. "Und nicht auch schon vom Habitus jemanden zu nehmen, der sich nicht übertrieben unterscheidet von den sozialdemokratischen Eliten, die vorher am Ruder waren." (uko)

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Unerfüllte Träume, die gibt es für einen Sigmar Gabriel, den Traum, Kanzler zu werden, so es denn sein Traum jemals wirklich war. Fakt ist, der SPD-Chef tritt zurück im doppelten Sinne: von der Kanzlerkandidatur und auch vom Parteivorsitz für Martin Schulz, den bisherigen Präsidenten des Europäischen Parlamentes. Eine Entscheidung, eine Situation, über die wir sprechen mit Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Uni München und Herausgeber des "Kursbuch". Guten Morgen!
Armin Nassehi: Schönen guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Nassehi, das ist eine gern genutzte politische Formel: der beste Mann, den die Partei hat für diese Position, für die Kanzlerkandidatur. Sie als Soziologie, trifft das zu auf diesen Martin Schulz? Ist er der beste Mann, den die Sozialdemokraten aufzubieten haben, um mehr als 20 Prozent der Bevölkerung zu erreichen?
Nassehi: Das wissen wir natürlich noch nicht, aber bis jetzt haben wir ja kein politisches Argument, ob er der beste Mann für ein bestimmtes Programm ist, sondern eigentlich nur ein demoskopisches Argument. Also die SPD scheint ja eine Studie in Auftrag gegeben zu haben, wer eigentlich besser ankommt, und darin zeigt sich vielleicht die ganze Not, in der gerade die sozialdemokratische Partei zurzeit ist, gar nicht so genau zu wissen, an welcher Front man eigentlich gewinnen muss, wen man eigentlich repräsentiert, ob man sozusagen die großen historischen Aufgaben, die die SPD ja tatsächlich mal erfüllt hat, nicht in eine modernere Sprache und eine modernere Bezugsprobleme übersetzen muss.

Wer geradlinig sein will, muss die Richtung kennen

Das hat die SPD bis jetzt in den letzten zwei Jahren, muss man sagen, eigentlich nicht so richtig geschafft. Gabriel hat es versucht, indem er in ganz unterschiedlichen Milieus versuchte reinzugehen, sowohl vom Habitus her als auch von den Argumentationsstrukturen her. Das wurde als Slalom empfunden. Wer weiß, ob Herr Schulz jetzt in der Lage ist, da etwas geradliniger zu sein, aber wenn man geradlinig sein will, dann muss man auch wissen, in welche Richtung man eigentlich geht.
Soziologe Armin Nassehi.
Soziologe Armin Nassehi© imago / Horst Galuschka
Frenzel: Das heißt, ich verstehe Sie richtig, eigentlich müsste sich die SPD viel mehr Gedanken über ihre Positionen machen als über das Personal?
Nassehi: Ja, das gilt ja eigentlich für beide großen Parteien. Also die Union muss sich auch zurzeit Gedanken darüber machen, was eigentlich ein zeitgemäßer Konservatismus ist, um nicht sozusagen die Kleinbürger an die AfD, zum Teil sogar an die Linken womöglich, zu verlieren, und die SPD muss sich die Frage stellen, wie sie die historische Bedeutung, die sie ja mal tatsächlich hatte, sozialen Aufstieg zu organisieren, neue Technologien in der Produktion mit Lebensformen kompatibel zu machen, die Frage sozusagen, ob tatsächlich Arbeit die einzige Möglichkeit ist, so etwas wie Einkommen zu generieren. Das sind ja die klassischen Fragen der SPD gewesen, in einer völlig neuen Industrie, auch in einer völlig neuen Erwartung, wie sich die Industrie verändern wird, beantworten zu müssen, und dazu hört man leider relativ wenig.

Aufgabe der SPD: Arbeit und Bürgertum versöhnen

Ich habe es gerade schon gesagt: Die SPD arbeitet an ganz verschiedenen Fronten, also sowohl in akademisierten, eher urbanen, weiblichen Mittelschichten, aber sie muss natürlich auch die untere Mittelschicht, die zum Teil große Probleme hat, auch mit zwei Jobs tatsächlich über die Runden zu kommen, ansprechen können, und das kann man nicht mit einem Slalom machen. Dafür braucht man eigentlich ein Programm und eine Idee, und die scheint nicht da zu sein. Also auf Deutsch gesagt: Man muss sich auf diese neue, vielleicht postindustrielle, aber auf jeden Fall Informationsgesellschaft einstellen, und die Aufgabe der SPD war eigentlich immer, Arbeit und Bürgerschaft miteinander zu versöhnen, und ich glaube, das kann die einzige Richtung sein.
Frenzel: Die Frage ist natürlich, ob diese Versöhnung heute noch klappen kann in einer Gesellschaft, die immer fragmentierter ist, wo es diese Gruppen gibt, wo man vielleicht diesen gemeinsamen Nenner nicht mehr finden kann, und dann versuchen muss – und da sind wir vielleicht beim Beispiel der CDU –, das doch über eine Person zu machen. Bei der CDU sehen wir es ja, dass Angela Merkel da ganz viel zusammenhält als prominente Vertreterin. Ist es dann nicht vielleicht doch der Weg, den die SPD auch gehen muss, dass sie sagt, wir brauchen jemanden, der das personell verkörpert, diesen Spagat?
Nassehi: Die Person kann ja nur so funktionieren, weil sie an der Macht ist und weil sie wahrscheinlich auch davon ausgehen kann, dass sie dort bleiben wird. Das ist für die, sagen wir mal, regierungsinterne Opposition, was die SPD ja tatsächlich ist, viel, viel, viel schwieriger, und wenn man wiederum mal historisch argumentiert, dann ist es eigentlich immer die Aufgabe der SPD gewesen, sozusagen zu sehen, dass sich die Milieus verändern, also von einer Arbeiterschaft in den 50er- und 60er-Jahren zu einer eher akademisierten Form des Arbeitens in den 70er-Jahren. Das waren ja auch unglaubliche Umbrüche, die man tatsächlich bewältigen musste, und ich glaube, dass die jetzige Zeit von ganz ähnlicher Radikalität ist, was Arbeit angeht und was die Versöhnung von Arbeit und Leben angeht.
Insofern, klar, ich meine, eine Person, die dafür steht, wäre natürlich genau die richtige, aber ob das die Person ist, da weiß ich nicht so richtig, ob das tatsächlich die richtige Marke ist. Ich meine, mal ganz ehrlich gesagt, die SPD hat keine allzu große Wahrscheinlichkeit, diese Wahl wirklich zu gewinnen. Insofern könnte man ja vielleicht etwas, wie soll man sagen, riskanter operieren und wirklich was Neues ausprobieren und nicht auch schon vom Habitus jemanden zu nehmen, der sich nicht übertrieben unterscheidet von den sozialdemokratischen Eliten, die vorher am Ruder waren.

Jünger, weiblicher, akademisierter

Frenzel: Da bin ich jetzt gespannt. Haben Sie einen konkreten Vorschlag?
Nassehi: Nee, also das ist auch nicht meine Aufgabe, da einen Vorschlag zu machen, aber das ist ja eine Partei, die tatsächlich also auf die jüngeren Leute zugeht, die vielleicht weiblicher werden will, die wirklich also sozusagen in den eher akademisierten Zirkel über diese Frage von Industrie 4.0, von Grundeinkommen und ähnlichen Dingen nachdenkt, da noch kein fertiges Programm hat. Vielleicht muss man da auch jemanden haben, der für diese Diskussionen steht, und das scheint Herr Schulz nicht zu sein. Sein großer Vorteil könnte sein, dass er von außen kommt und auf wenig, sagen wir mal, Dinge Rücksicht nehmen muss. Er gehört der Regierung nicht an, aber alleine die Frage der Lautstärke und der Möglichkeit, freier zu reden, werden die Dinge nicht entscheiden.
Frenzel: Wenn man mit älteren Sozialdemokraten spricht, dann hört man häufig sowas wie wir bräuchten wieder einen neuen Willy. Das führt mich zu der Frage, warum sich die deutsche Politik eigentlich so schwer tut, die deutschen Parteien insgesamt, echte Hoffnungsträger hervorzubringen. Wir haben keine Obamas, wir haben, wenn wir nach Frankreich schauen, keinen Emmanuel Macron, in den sich die Franzosen ja wohl gerade ein bisschen verlieben. Warum ist das so?
Nassehi: Ich glaube, das liegt unter anderem daran, dass wir ein natürlich viel weniger mobiles Parteiensystem haben. Das gilt jetzt natürlich für USA nicht, aber in Europa gibt es da durchaus viel lebhaftere Diskussionen in anderen Ländern, aber in Deutschland spielt natürlich eine Rolle, dass wir sehr, sehr stark uns daran gewöhnt haben, dass diese Opposition von Union und SPD eigentlich alles regelt, und wenn man ganz ehrlich ist, dann findet man alles, was davon abweicht, immer noch als eine Abweichung. Das ist in anderen europäischen Ländern nicht der Fall. Wie kommen Hoffnungsträger zustande – ich glaube nicht, dass man sie sich basteln kann, sondern es muss Zeitläufe geben, in denen ein Hoffnungsträger tatsächlich die richtigen Sätze sagen kann.
Altkanzler Gerhard Schröder
Altkanzler Gerhard Schröder© dpa/picture alliance/Swen Pförtner
Der letzte Sozialdemokrat, der das war, das war tatsächlich Gerhard Schröder, der mit der Rot-Grün-Koalition 1998 ja wirklich ein Projekt formulieren konnte, und dieses Projekt war ja durchaus auch erfolgreich, aber es muss sozusagen eine Situation geben, in der die Konstellationen das ermöglichen. Das ist im Moment viel, viel schwieriger. Selbst die Kanzlerin, die ja an der Macht ist, ist die letzte, die für ein Projekt steht, sondern für eine Form von Kontinuität, die, sagen wir mal, so ein bisschen einer Illusion von Sicherheit vermittelt, aber auch kein Programm, bei dem man sagen kann, hier hätten wir jetzt eine Persönlichkeit, die da etwas durchsetzen kann, sondern da geht es eher darum, mit möglichst wenig Macken, wie soll man sagen, durch den Großstadtdschungel zu kommen.
Frenzel: Also wenn ich Sie richtig verstehe, ein Plädoyer für Rot-Rot-Grün würden Sie nicht abgeben an dieser Stelle?
Nassehi: Na gut, das wäre jetzt eine politische Aussage, die würde ich jetzt so gar nicht machen. Das wäre tatsächlich nicht das, was ich mir erhoffen würde. Ich glaube auch nicht, dass das die Konzepte wären, die man braucht. Da wäre viel Traditionalismus dabei. Insofern – ich hatte es ja gerade schon gesagt – glaube ich nicht, dass die SPD auch eine wirkliche Machtchance im Moment hat. Man kann nur hoffen, dass es nicht wieder zu eine großen Koalition kommt, und zwar hoffen sowohl für die Regierungspolitik des Landes als auch für die sozialdemokratische Partei. Man muss kein Sozialdemokrat sein, um tatsächlich zu sehen, dass diese Partei eine wichtige Funktion hat: nämlich tatsächlich die Grundidee sozialen Aufstiegs irgendwie möglich zu machen, in politische Formen zu gießen, und ich glaube, daran muss sich die SPD tatsächlich orientieren. Welche Konstellation dafür die richtige ist, das wird man sehen.
Frenzel: Armin Nassehi, Professor für Soziologie in München und Autor des Buches "Die letzte Stunde der Wahrheit: Warum Rechts und Links keine Alternativen mehr sind", das in wenigen Tagen, wenn ich richtig informiert bin, in einer Neufassung erscheint.
Nassehi: So ist es.
Frenzel: Herr Nassehi, danke für Ihre Zeit!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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