Spannungen im syrisch-türkischen Grenzgebiet befürchtet

28.07.2012
Die syrischen Sicherheitsorgane hätten sich aus einigen Städten im Norden des Landes zurückgezogen, sagt Siamend Hajo von der Partei "Kurdische Zukunftsbewegung". Stattdessen hätten die Kurden die Sicherheit übernommen - was zu Spannungen mit der Türkei führen könnte.
Gabi Wuttke: Die Vereinten Nationen, nicht nur sie befürchten für Syrien das Schlimmste. Das Internationale Rote Kreuz hat reagiert und einen Teil seiner Helfer aus Aleppo abgezogen, ebenso der Arabische Halbmond. Der Politikwissenschaftler Siamend Hajo ist der Europasprecher der Partei Kurdische Zukunftsbewegung in Syrien und jetzt am Telefon in Berlin. Einen schönen guten Morgen!

Siamend Hajo: Guten Morgen!

Wuttke: Auch in Aleppo leben viele Kurden. Bislang hatten Sie dorthin telefonische Kontakte. Bestehen die noch? Was hören Sie von dort?

Hajo: Ja, also, telefonische Kontakte gibt es. Ich hatte das letzte Mal um 23:00 Uhr gestern Abend Gespräche geführt mit Freunden in Aleppo. Ja, in Aleppo herrscht ein Krieg seit drei Tagen, es wird in mehreren Bezirken gekämpft, die Armee hat wohl gestern früh um vier Uhr eine Großoffensive gestartet, vor allem in Salaheddin, das ist ein Stadtbezirk von Aleppo, dort sind zahlreiche Soldaten von der Freien Syrischen Armee. Es gibt ... also, gestern sagte mir mein Gesprächspartner um 23:00 Uhr, dass kaum jemand noch diesen Stadtbezirk verlassen kann, es ist komplett abgeriegelt vom syrischen Militär, es wird mit Hubschraubern, zum Teil Kampfflugzeuge sind zum ersten Mal gestern in einer Stadt in Syrien eingesetzt worden, Panzer, Scharfschützen, also ... Es soll nach seinen Informationen um Hunderte Tote auf den Straßen gehen, um die sich niemand kümmern kann, weil eben gekämpft wird.

Wuttke: Konnte Ihr Gesprächspartner auch sagen, mit welchen Waffen die Opposition in Aleppo zugange ist?

Hajo: Nach seiner Information haben sie leichte Waffen, vor allem Maschinengewehre und, ja, Granaten. Auf jeden Fall ganz leicht bewaffnet sind sie in Aleppo. Sie haben sich in den Straßen, den Häusern verschanzt und führen Stadtguerilla-Krieg und, ja, sind sehr, sehr leicht bewaffnet.

Wuttke: Bleibt Ihren Freunden noch etwas anderes, als jetzt in Aleppo auszuharren, oder planen sie, die Stadt zu verlassen?

Hajo: Er meinte, alle, die die Möglichkeit haben, verlassen die Stadt. Seit einer Woche fliehen Menschen aus Aleppo. Aleppo war vorher ein Zufluchtsort gewesen, man nahm an, dass es dort ruhig bleiben wird. Es ist eine Wirtschaftsmetropole gewesen, das Regime hatte sehr viel getan, damit diese Stadt ruhig bleibt. Und deswegen waren schon bereits vorher Tausende von Menschen aus anderen Stadtteilen ... Landesteilen, wo es Krieg gab, geflohen. Sie und alle anderen, die die Möglichkeit haben zu fliehen, haben wohl die Stadt verlassen. Es gibt zum Beispiel zwei sichere Bezirke, wo die Kurden leben, [unverständlich] und Aziziah, hier sind auch zahlreiche Flüchtlinge, die aus den Bezirken wie Salaheddin, [unverständlich], wo sehr viel gekämpft wird hingeflohen.

Wuttke: In einzelnen Städten sind kurdische Räte gegründet worden, Herr Hajo. Die türkische Regierung ist alarmiert, weil an der Grenze eine autonome Region Westkurdistan ausgerufen wurde. Während dieser sich immer weiter zuspitzenden Konfrontation zwischen dem Regime und der Opposition, was passiert da gerade auf kurdischer Seite, wenn es um Leben und Tod im Land geht?

Hajo: Die Kurden haben keine Autonomie ausgerufen. Was passiert ist tatsächlich, aus vier Städten hat sich zum Teil die syrische, die Sicherheitsorgane sich zurückgezogen. Die Verwaltung besteht nach wie vor, es sind Beamte, die auch vorher dort waren, also, die Beamten sind noch dort. Und eben was passiert ist, die syrischen Sicherheitsorgane haben sich aus diesen Städten zurückgezogen und die Kurden haben die Sicherheit übernommen in diesem Gebiet. Das Problem ist, dass tatsächlich in vielen dieser Städte die PKK beziehungsweise PED, das ist die syrische Zweigstelle von PKK, die Kontrolle übernommen hat, und das ist natürlich für die Türkei nicht sehr erfreulich, weil die PKK einen Kampf in der Türkei seit Jahren führt. Und sie befürchten, dass hier Ausbildungslager von PKK später gebildet werden und diese Leute rekrutiert werden, die später in der Türkei eingesetzt werden.

Wuttke: Was will Ihre kurdische Zukunftsbewegung, wenn denn Assad gestürzt sein sollte?

Hajo: Die kurdische Zukunftsbewegung will einen zivilen Rechtsstaat haben, will nationale Rechte für die Kurden haben, will Demokratie im neuen Syrien haben, wo alle Staatsbürger die gleichen Rechte haben.

Wuttke: Es gibt zum Beispiel Ihre Bewegung, es gibt aber auch den international anerkannten syrischen Nationalrat. Warum gehen Sie nicht zusammen?

Hajo: Wir sind als einzige kurdische Partei Mitglied im Syrischen Nationalrat. Die anderen 17 kurdischen Parteien sind nicht drin vertreten. Also, die eine Partei, die nicht drin vertreten ist, ist die PED, von der ich vorhin erzählt habe, und der Kurdische Nationalrat, der aus 15 Parteien besteht. Sie haben politische Differenzen mit dem Syrischen Nationalrat, man hat sich noch nicht auf allen Punkten geeinigt, was die Rechte der Kurden angeht. Und ein Grund, warum sie nicht im Syrischen Nationalrat sind, war lange Zeit, dass ihre Führung, also die Führung dieser Partei im Land waren, in Syrien lebten, und man befürchtete Sanktionen gegen ihre Parteimitglieder und Verfolgung, wenn sie also Mitglied würden im Syrischen Nationalrat, und haben es deswegen nicht gemacht. Aber es gibt regen Kontakt, es gibt Gespräche, dass man doch Mitglied in diesem Syrischen Nationalrat wird. Aber unsere Partei ist eben die einzige kurdische Partei, die seit der Gründung Mitglied im Syrischen Nationalrat ist.

Wuttke: Vielstimmig ist und bleibt die Opposition in Syrien, auch zur Situation in Aleppo. Im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur der Politikwissenschaftler Siamend Hajo, Europasprecher der Partei Kurdische Zukunftsbewegung. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich Zeit genommen haben, schönen Tag!

Hajo: Ebenso, danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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