Spanien

Der Mensch ist ein Sack voll Dreck

Rafael Chirbes
Rafael Chirbes © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Von Katharina Döbler · 03.02.2014
Ein erbarmungsloser Chronist der jüngsten spanischen Geschichte ist Rafael Chirbes. Sein neuer Roman über den Untergang einer Möbeltischlerei konzentriert sich auf einen einzigen Tag im Dezember 2010.
In Olba, einem kleinen Ort unweit von Valencia, sitzen sie in ihrem Stammlokal beisammen: Carlos, der Sparkassendirektor, der täglich die Räumungsklagen gegen zahlungsunfähige Schuldner unterschreibt; Justino, der einstige Fluchthelfer, der zum Sklavenhändler geworden ist; Francisco, der als Gourmet und Journalist aus seinen guten Kontakten Kapital geschlagen hat; Bernal, der Fabrikant, der seine Asbestabfälle im Sumpf entsorgt – und Estéban, der Schreiner, der sich an spekulativen Baugeschäften beteiligt und mit der Krise alles verloren hat. Nicht mehr dabei ist sein heimlicher Partner und Schuldner Pedrós, Bauunternehmer und Betrüger: Der hat sich mit möglichst viel Geld ins Ausland abgesetzt.
Der Erfinder solcher Figuren ist Rafael Chirbes, Jahrgang 1949, ein treuer und erbarmungsloser Chronist der jüngsten spanischen Geschichte, ein Erzähler, der tiefe Einblicke in die innere Verfassung seiner Figuren gewährt. Die Aufsteiger und Aussteiger, die Trickser, die Resignierten, die Liebenden, die Dreckskerle und die Sieger, die er in seinen Sittenbildern zusammenstellt, tragen fast immer das Kainsmal des Scheiterns, zumindest der Vergeblichkeit.
Zudem gibt es wahrscheinlich keinen lebenden Autor, der den verschiedenen Schattierungen des Opportunismus mehr Aufmerksamkeit und mehr erkenntnisträchtige Buchseiten gewidmet hätte als dieser empathische und bittere Realist.
Lebensbilanz eines Schreiners: Weniger als nichts
Sein neuer Roman über das kleine Welttheater von Olba und den Untergang einer traditionsreichen Möbeltischlerei in der Krise konzentriert sich auf einen einzigen Tag, den 14. Dezember 2010: Estéban, der Schreiner, der keiner sein wollte, zieht die Bilanz seines Lebens und das Ergebnis steht von vornherein fest: weniger als nichts. Seine ehemaligen Angestellten, jetzt allesamt arbeitslos, kommen ebenfalls auf einigen Seiten zu Wort: der Marokkaner Ahmed, der Schwarzarbeiter Julio, die Kolumbianerin, die den alten Vater pflegt. Aber die Stimme, die dieses Buch tatsächlich trägt, ist die des bitteren und einsamen Estéban. Er kommentiert den Zustand des Landes, das mal alberne und mal tiefsinnige Gerede der zweifelhaften Honoratioren, die Geschichte seiner Familie und vor allem sein eigenes in der Kleinstadt verbrachtes Leben, ein andauerndes Provisorium der Mutlosigkeit, das nie zu sich selbst gefunden hat.
Der Mensch sei ohnehin "ein schlecht zusammengenähter Sack voll Dreck": diese Meinung teilt er mit seinem verschlossenen, kalten Vater, der die unbewältigte Niederlage der spanischen Republik fast buchstäblich verkörpert. "Aber ich", sagt Estéban, das 1940 geborene Nachkriegskind, "habe meinem Pessimismus wenigstens keine gesellschaftliche Dimension gegeben (...) Ich habe meine Enttäuschungen erlebt, ohne mir einzubilden, dass sie zum Untergang der Welt gehörten."
Chirbes hat den großen realistischen Roman über die europäische Krise geschrieben: kleine Leute, große Kunst.

Rafael Chirbes: Am Ufer
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Verlag Antje Kunstmann, München 2014
432 Seiten, 24,95 Euro

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