Soziologin: Moderne Gesellschaften brauchen Zuwanderung

Moderation: Ulrike Timm · 11.10.2010
Der Vorschlag von Horst Seehofer, Zuwanderung zu begrenzen, sei unrealistisch, meint die Soziologin Martina Löw. Allein aus demografischen Gründen brauche man Menschen mit neuen Ideen aus anderen Ländern. "Die Idee von Reinheit ist einfach geradezu schädlich für moderne Gesellschaften".
Ulrike Timm: Globalisierung ist an sich schon weder ein einfacher Begriff noch eine einfache Sache. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie setzt aus Anlass ihrer Tagung zum 100. Bestehen jetzt noch eins drauf und spricht von "transnationalen Vergesellschaftungen". Und ich spreche jetzt mit der stellvertretenden Vorsitzenden, der Soziologieprofessorin Martina Löw. Schönen guten Tag!

Martina Löw: Schönen guten Tag, Frau Timm!

Timm: Frau Löw, ob nun transnationale Gesellschaften oder vielleicht doch ein bisschen einfacher Globalisierung: Warum haben Sie sich für den Jubiläumskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gleich die ganze Welt mit ans Bein gebunden?

Löw: Wissen Sie, als vor 100 Jahren die Deutsche Gesellschaft für Soziologie gegründet wurde, wurde sie als eine nationale Gesellschaft gegründet. Gleichzeitig wussten die Soziologen damals aber, dass sie natürlich permanent mit ihren Gegenständen sich in der ganzen Welt bewegen, dass das, was Gesellschaft ist, nie nur an einem Ort stattfindet, sondern vernetzt ist. Und wir dachten, wir greifen diesen Faden wieder auf.

Timm: Globalisierung steht heute natürlich vor allem im Zusammenhang mit Migration. Nun hat Ihnen am Wochenende CSU-Chef Horst Seehofer ja gleich Stoff zugeliefert, er tritt für einen Zuwanderungsstopp aus fremden Kulturen ein, sorgt für heftig Wirbel. Was sagt denn die Soziologin dazu?

Löw: Ja, das ist natürlich ein ganz unrealistischer Vorschlag, weil moderne Gesellschaften auf Zuwanderung angewiesen sind. Ich meine, wir müssen nur über Themen wie Demografie reden, da brauchen wir natürlich Menschen mit neuen Ideen aus anderen Ländern. Darüber hinaus, wenn Sie die Geschichte von Europa sich angucken: Das war immer die Geschichte eines Kulturenmixes! Die Idee von Reinheit ist einfach geradezu schädlich für moderne Gesellschaften.

Timm: Nun haben ja andere Gesellschaften – zum Beispiel die kanadische oder die Schweizer - tatsächlich strengere Richtlinien als wir. Kriegen die denn Migration tatsächlich besser hin? Herr Seehofer geht ja davon aus.

Löw: Die Schweizer Gesellschaft hat ganz viele Probleme und sie schafft sich eigentlich auch noch mehr Probleme dadurch, dass das auf diese Art und Weise, nämlich letztendlich auf eine rassistische Art und Weise thematisiert wird. Ich glaube, wir brauchen tatsächlich die umgekehrte Strategie, wir brauchen die Akzeptanz der Differenzen, aber trotzdem ein gemeinsames Wir-Gefühl. Und in vielen Städten klappt das auch. Wir haben gerade eine Studie für Frankfurt vorliegen, wo man zeigt, das ist die Stadt, wo die meisten Kulturen zusammenleben, aber trotzdem haben diese Kulturen gemeinsam das Gefühl entwickelt, Frankfurter zu sein.

Timm: Das heißt, man kann heute türkischer Immigrant, Bäcker um die Ecke, Frankfurter und Hesse in einem sein?

Löw: Ja! Ich meine, Identität ist was Kompliziertes, aber daran haben wir uns längst gewöhnt.

Timm: Anscheinend ja nicht so, wie Sie vielleicht hoffen, sonst gäbe es diese Diskussion ja nicht in diesem Maße.

Löw: Ja doch, klar, man muss sich immer wieder darüber auseinandersetzen, man stolpert immer wieder irritiert. Aber wir sind natürlich zum Beispiel Deutsche, und manche sind Deutsche und Türken. Und wir wissen auch, dass wir Teil einer globalen Welt sind, und wir sind Frankfurter. Und das funktioniert doch gut nebeneinander – oder Berliner oder Münchener. Und die wenigsten Leute sind darüber wirklich alltäglich irritiert.

Timm: Gibt es denn eigentlich Muster, einen roten Faden, wie Menschen heute nach ihrer ganz eigenen Identität suchen, wenn die Gesellschaft an sich immer globaler wird und schlicht alles mit allem zusammenmengt?

Löw: Na ja, das wichtigste Muster ist tatsächlich das Dadrüber-Reden, also sich damit auseinanderzusetzen, was bedeutet es für mich, dass meine Identität eine vielfältige ist. Und in diesem Reden stabilisieren wir uns häufig auch.

Timm: Wie multikulturell ist denn die Gesellschaft für Soziologie, die heute diskutiert?

Löw: Ja, ja ... Also wir diskutieren mit vielen Kollegen, wir haben zwei Gastländer, nämlich USA und Frankreich, hier kommen auch Kollegen aus anderen Ländern. Aber wir würden uns natürlich auch wünschen, dass noch mehr Menschen aus vielen Ländern in Deutschland Soziologie studieren und hier auch Professuren ergreifen und damit das Fach bereichern.

Timm: Das heißt, den deutsch-türkischen Soziologen haben Sie selber auch noch nicht?

Löw: Doch, wir haben ihn, aber es sind zu wenige.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Aus Anlass des 100. Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hören wir die stellvertretende Vorsitzende Martina Löw zur Bedeutung des Fachs. Frau Löw, ich hab mal geschaut nach dem allerersten Thema, dem allerersten Vortrag, ...

Löw: ... ja ...

Timm: ... der in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gehalten wurde von Georg Simmel zusammen mit Max Weber, einer der Begründer der Sozialwissenschaft, und das Thema hieß: "Zur Soziologie der Geselligkeit 1910". Danach wurde eine Flasche Sekt aufgemacht. Ist das ganz weit weg von der heutigen Debatte oder ganz nah dran?

Löw: Nein, wir müssen natürlich genau so heute noch das Alltagsleben uns angucken. Wissen Sie, in diesen ganz kleinen alltäglichen Situationen wie Fahrstuhlfahren, wie Gemeinsam-am-Mittagstisch-Sitzen, da findet Gesellschaft statt. Wir leben ja in Ritualen und Routinen, in der Art und Weise, wie wir uns an einem Tisch platzieren, wer welchen Stuhl üblicherweise einnimmt, wie wir ein Gespräch eröffnen, was sagen wir höflicherweise am Anfang einer Situation wie eines gemeinsamen Essens mit Kollegen? All das sind eingeübte Formen, die das ausmachen, was den Kanon der Regel einer Gesellschaft ausmacht.

Sie merken sofort, wenn Leute dazukommen, die diese Regeln nicht kennen, wie die gesamte Gruppe erst mal irritiert ist und sich auf die neue Situation einstellen muss. Und das entlastet unseren Alltag enorm, dass wir diese gemeinsamen Regeln entwickelt haben.

Timm: Ganz einfach gesprochen ist die Soziologie ja die Lehre vom Zusammenleben von Menschen, und sie hatte eine Hochzeit in den 1960ern und 70ern. Heute wird zum Beispiel das große Thema Globalisierung von Wirtschaftlern, von Politologen, ich glaube auch sehr von Juristen beackert. Hat die Bedeutung des Faches abgenommen?

Löw: Nein, das glaube ich nicht. Wir arbeiten natürlich jetzt sehr eng mit den anderen Disziplinen zusammen, interdisziplinäres Arbeiten ist ein ganz wichtiges Thema geworden, aber der spezifische Blick der Soziologie auf das, was wir Globalisierung nennen, der ist immer noch der zu schauen, welche Institutionen sich herausbilden. Und Institutionen sind sowohl die Regeln des Alltags als auch die festgeschriebenen Regeln und Formen des Miteinanders.

Timm: Gut, ich kenne, Frau Löw, sogar noch Journalistenkollegen, die den kompletten Max Weber im Schrank haben, aber das ist doch ziemlich die Ausnahme. Vielleicht ist das Fach vom Zentrum des Interesses doch ein bisschen an den Rand gerückt beziehungsweise mit anderen Fächern – Politikwissenschaft, Psychologie, Philosophie – schlicht verschmolzen. Was Sie interdisziplinär nennen, könnte man auch sagen, das ist die Migration zwischen den Fächern?

Löw: Nein, ich glaube nicht. Weil die Psychologie zum Beispiel guckt wirklich auf das Individuum, und nicht auf die Gruppe. Und die Rechtswissenschaft guckt auf die Kodifizierung von Regeln, und nicht auf das alltägliche Miteinander. Und Sie haben vielleicht heute nicht mehr Max Weber im Schrank, aber Sie haben wahrscheinlich fast alle Ulrich Beck im Schrank. Und insofern verändern sich die Klassiker und es wird mehr kooperiert, aber es hat doch jedes Fach seine eigene Perspektive.

Timm: Aber dass Jürgen Habermas, einer der weltweit doch meistdiskutierten Philosophen und Soziologen überhaupt, den Festvortrag zum Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie aus terminlichen Gründen abgesagt hat, ist doch eine ziemliche Watsche, oder?

Löw: Jürgen Habermas versteht sich als Philosoph. Ich meine, das muss man auch akzeptieren, wenn wir über Identität sprechen, dass Menschen für sich eine Entscheidung treffen: Das ist meine fachliche Identität und zu der möchte ich auch stehen.

Timm: Wo sehen Sie denn die Zukunftsaufgaben der nächsten 100 Jahre?

Löw: Na ja, auf jeden Fall müssen wir uns mit dem Thema Migration weiter beschäftigen. Das Thema Stadt wird immer wichtiger, jeder zweite Mensch lebt heute in Städten, das ist natürlich ein ganz entscheidendes Thema für die Soziologie. Es eröffnen sich neue Perspektiven, auch Sexualität stärker zum Thema zu machen, das war bislang immer etwas rückständig. Damit sind wir natürlich auch wieder bei den Identitätsfragen. Also, es gibt neue Felder in die alten Themen hinein.

Timm: Nun ist ja so ein Soziologenkongress ein ziemlich geschützter Raum. Wie kommen Sie denn aus dem Kongress raus wirklich in die lebhafte Diskussion der Gesellschaft?

Löw: Ja wissen Sie, ich mache diese Erfahrung alltäglich, dass ich ganz viele Anfragen bekomme sowohl aus dem Medienbereich, aber auch aus den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen heraus, Kommunen zum Beispiel, die sich mit bestimmten Themen auseinandersetzen, Vereine, die bestimmte Fragen haben und die Einladungen an uns adressieren. Und insofern glaube ich, der Austausch funktioniert ziemlich gut!

Timm: Die Soziologieprofessorin Martina Löw. Zurzeit tagt die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zum 100. Mal, 1910 wurde sie begründet. Vielen herzlichen Dank fürs Gespräch, Frau Löw!

Löw: Ja, aber sehr gerne!