Soziologe: Soziale Ungleichheit fördert Gewalt

Moderation: Hanns Ostermann · 17.12.2007
Angesichts der Diskussionen über die Höhe deutscher Managergehälter hat der Wiener Soziologe Sighard Neckel von der Politik gefordert, die gesellschaftliche Verteilung des Wohlstands zu thematisieren. Es sei wichtig, in der Gesellschaft wieder ein Gefühl für die Begrenzung sozialer Ungleichheit zu schaffen, betonte Neckel.
Hanns Ostermann: Haben Sie sich heute das Frühstück selbst gemacht? Für hochbezahlte Manager stellt sich die Frage nicht. Eine Hausdame ist dafür verantwortlich. Wer Millionen im Jahr verdient, der hat wichtigeres zu tun. Der Club der Wohlhabenden bei uns wird immer größer. Zur gleichen Zeit leben drei Millionen Kinder an der Armutsgrenze, hoffen Hartz-IV-Empfänger auf 10 oder 20 Euro mehr im Monat. Viele empfinden das, was zurzeit passiert, als höchst ungerecht und die Politik sucht nach Lösungen, um aus der Falle zu kommen. Auch gestern ging die Debatte weiter. Unionsfraktionschef Kauder forderte eine Obergrenze für Gehälter im öffentlich-rechtlichen Betrieb. Die Privatwirtschaft blieb außen vor. Die SPD fordert weiter Mindestlöhne. Aber reicht das?

Mit welchen Konsequenzen muss eine Gesellschaft rechnen, in der es nicht mehr mit rechten Dingen zugeht, nicht mehr gerecht? – Darüber reden wir im Deutschlandradio Kultur mit Professor Sighard Neckel. Er ist Soziologe und lehrt und forscht derzeit an der Universität Wien. Guten Morgen Herr Neckel!

Sighard Neckel: Guten Morgen!

Ostermann: Arme und Reiche hat es doch schon immer gegeben. Was ist das Neue, das vielleicht Gefährliche an der derzeitigen Situation?

Neckel: Es ist richtig: Armut und Reichtum hat es immer gegeben. Für unsere Gesellschaft ist allerdings kennzeichnend, dass es für die unterschiedliche Verteilung, für die soziale Ungleichheit Erklärungen geben muss, Erklärungen, die die Menschen tatsächlich auch akzeptieren, wenn Sie so wollen Erzählungen darüber, wie es gekommen ist, dass der eine auf der einen Seite, die andere auf der anderen Seite steht. Den Menschen geht diese Erklärung zunehmend verloren, weil sie in ihrem eigenen Verhalten, in ihren eigenen Anstrengungen und auch in den Anstrengungen der anderen, denen es so viel besser geht, keine hinlänglichen Beweggründe und Anlässe dafür sehen, dass die Schere der sozialen Ungleichheit so weit auseinander geht. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, auf das man sich in unserer Gesellschaft immer beruft, wenn es um die soziale Ungleichheit geht, und wer sich aus Leistungsunterschieden Ungleichheit nicht mehr erklären kann, wird mit einer gewissen Ratlosigkeit seinem eigenen Schicksal überlassen.

Ostermann: "Leiste was, dann bist du was", das ist eine Mär von gestern?

Neckel: Das ist nicht erst eine Mär von gestern, aber es ist auf jeden Fall problematischer denn je und wird von vielen Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr als realitätstüchtig begriffen. Das heißt nicht, dass in unserer Gesellschaft nichts mehr geleistet wird. Ganz im Gegenteil: die Anforderungen an die berufliche Leistung sind in vielen Berufen eminent gestiegen. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass auch mit Leistungssteigerungen, dass man sich anstrengt im Leben, nicht mehr eine soziale Besserstellung für viele verbunden ist, auch noch nicht mal eine Art von sozialer Sicherheit. Wir sprechen heute etwa über den Tatbestand, dass Menschen Vollzeit beschäftigt sind und arbeiten und von diesen Arbeitseinkommen keine selbständige Existenz mehr führen können. Das ist vor dem ganzen Hintergrund des moralischen Anspruches unserer Gesellschaft ein Skandal.

Ostermann: Auf den moralischen Anspruch kommen wir gleich noch mal zu sprechen. Aber wenn sich Leistung nicht mehr auszahlt, nicht mehr lohnt, welche Konsequenzen hat das für die einzelnen und letztlich dann für die Gesellschaft?

Neckel: Letztendlich hat das die Konsequenz, dass die moderne Gesellschaft, unsere Gesellschaft an ihren eigenen ethischen Grundlagen Zweifel sät und diese ethischen Grundlagen untergräbt. Das führt dazu, dass in der Tat Frustrationen sich ausbreiten können, dass Menschen, auch gerade eine jüngere Generation überhaupt gar nicht bereit ist, den anstrengenden Weg von Ausbildung, Qualifikation, regelmäßiger anstrengender Arbeit zu gehen, weil man gar nicht den Eindruck hat, dass es sich tatsächlich lohnt. Eine der Konsequenzen ist eben, dass zu den gesellschaftlichen Normen ein mehr oder minder zynisches Verhältnis eingenommen wird und letztendlich Formen von Aggressivität auch zwischen den sozialen Schichten entstehen.

Ostermann: Aggressivität und das ist ausgesprochen schlecht, wenn man sich – Sie haben eben von Moral gesprochen – den moralischen Haushalt unseres Gemeinwesens anschaut. Wenn dort Menschen nicht Teilhabe haben, so wie es das Grundgesetz vorsieht, dann kann das zu Wut und zu Aggressionen führen. Woran machen Sie das fest?

Neckel: Seit den 90er Jahren haben wir in vielen westeuropäischen Ländern die Situation, dass wir sichtbare Formen von Aggression und Selbstaggression vor allen Dingen in den unteren Schichten haben: sei es, dass mit regelmäßigen Abständen in den Pariser Vorstädten die Mülltonnen und die Autos brennen, sei es, dass in den unteren Schichten vor allen Dingen auch die Form der Selbstaggression, also der Selbstzerstörung, der psychischen und der materiellen Selbstzerstörung um sich greifen. Das sind Erscheinungsformen, wie wir sie zuvor so nicht gekannt haben, und wir stellen immer mehr fest, dass wir in den unteren Schichten keine organisierten Formen des Protestes haben, sondern unkontrollierte Formen kollektiver Wutausbrüche aus Frustration über eine gesellschaftliche Situation, in der man eigentlich wie Sie sagen keine Chancen hat.

Ostermann: Keine Perspektive und die Gewalt an Schulen bei uns ist ja auch so ein entsprechendes Beispiel. Die Politik sucht jetzt nach Lösungen. Welche schlagen Sie als Soziologe vor, denn Reaktionen – das haben Sie eben bebildert, das haben Sie gesagt -, diese Reaktionen sind ein gefährlicher Sprengsatz?

Neckel: Als erstes wäre uns sicherlich damit gedient, wenn die Politik die gesellschaftliche Verteilung tatsächlich selber zu einem Thema machen würde und nicht darauf verzichten würde, dort selbstgestaltend Einfluss zu nehmen, dies alles der Wirtschaft selbst zu überlassen. Ich glaube, ob das nun die Politik tatsächlich gesetzlich herstellen kann oder nicht, ist unbedeutend. Es ist sicher wichtig, in unserer Gesellschaft auch ein Empfinden wieder für die Begrenzung sozialer Ungleichheit entstehen zu lassen. Wir haben ein Jahrzehnt hinter uns, in dem die Vertiefung sozialer Ungleichheit, die Verschärfung des Wettbewerbes stets gepredigt wurde als wesentliche Faktoren, um den Wohlstand steigern zu lassen. Wir können nun konstatieren, dass an diesem Wohlstand bei weitem nicht alle teilhaben, und es ist Zeit, dass sich die gesellschaftliche Richtung verändert, dass ein größerer Teil der Bevölkerung tatsächlich Teilhabe auch an Wohlstandsentwicklung und Wohlstandssteigerung hat und dies nicht in bestimmten Oberschichten monopolisiert wird.