Soziologe: Angst vor Arbeitslosigkeit bleibt tief verankert

Klaus Dörre im Gespräch mit Hanns Ostermann · 09.09.2010
Der Soziologe Klaus Dörre sieht trotz sinkender Arbeitslosenzahlen weiterhin eine tief verankerte Angst vor Arbeitslosigkeit in der deutschen Gesellschaft. Diese Angst sei aus seiner Sicht auch noch immer sehr berechtigt, sagte der Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena.
Hanns Ostermann: Alle haben sie, doch nur wenige reden ganz offen darüber: über ihre Angst. Nicht gern zum Zahnarzt zu gehen, das geben viele noch zu, aber wie steht es mit anderen Ängsten – am Arbeitsplatz zu versagen, vielleicht den Ansprüchen nicht gerecht zu werden? Häufig genug ist dies unter Kollegen ein Tabuthema. Heute wird zum 20. Mal eine Langzeitstudie zu den wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Sorgen der Deutschen veröffentlicht – Anlass für uns, mit Professor Klaus Dörre zu sprechen. Er ist Soziologe, lehrt und forscht an der Universität in Jena. Guten Morgen, Herr Dörre!

Klaus Dörre: Guten Morgen!

Ostermann: Wovor haben Sie Angst?

Dörre: Ich hätte in erster Linie Angst vor persönlichen Rückschlägen im Familienkreis, es ist aber etwas, was ich im Fragebogen nicht unbedingt ankreuzen würde.

Ostermann: Das heißt, Sie würden dort auch den Mantel des Schweigens drüber decken. Warum würden Sie das nicht ankreuzen?

Dörre: Na ja, es gibt bei solchen Umfragen eigentlich immer den Punkt, dass das Interessanteste ist, was die Leute nicht sagen. Wahrscheinlich wird auch bei dieser Umfrage rauskommen, dass die Mehrzahl der Deutschen ihre persönliche Zukunft ganz gut und ganz gelassen sieht. Das ist aber manchmal so eine Art Zwangsoptimismus: Wenn man mit Blick auf die eigene Biografie schon kapituliert und zu viele Ängste offenbart, dann lähmt das, und das ist in dieser Gesellschaft nicht gut.

Ostermann: Wir haben Probleme, unsere Schwächen zuzugeben?

Dörre: In der Tat.

Ostermann: Angst – und darüber sollten wir reden – schützt uns ja auch, sie bewahrt uns vor möglicher Gefahr. Aber von welchem Punkt an wird Angst kontraproduktiv?

Dörre: Also ich glaube, man muss unterscheiden zwischen einer Furcht, die wir alle haben und die uns in die Lage versetzt, auch Gefahren zu meiden, das ist ja außerordentlich produktiv, dass wir nicht aus fünf Metern Höhe von einer Mauer springen oder solche Dinge. Das ist zu unterscheiden von einer Angst, die unkontrolliert wird, die wir nicht beherrschen können und die uns tatsächlich lähmt, die uns auch hindert, Dinge zu tun, wo es sinnvoll wäre, sie zu tun, also etwa Rechte wahrzunehmen im Betrieb und in der Gesellschaft, die einem zustehen, aber wo man dann aus Gründen der Benachteiligung oder dass es einen Konflikt geben könnte zurückzuckt oder ähnliche Probleme ...

Ostermann: Sind wir Deutschen besonders ängstlich?

Dörre: Das würde ich so nicht sagen. Ich würde formulieren, dass wir mit Blick auf unsere Geschichte im kollektiven Gedächtnis unserer Bevölkerung tatsächlich abgelagert eine ganze Reihe von Katastrophen haben – tiefe Wirtschaftskrisen, den Nationalsozialismus –, und deshalb sind die Sicherheitsstandards, die verinnerlichten Sicherheitsstandards in der Bevölkerung, in der deutschen Bevölkerung besonders hoch. Das muss man klar sehen. Ich würde das aber nicht mit allzu großer Ängstlichkeit übersetzen, sondern es hat schon Ursachen in der Geschichte.

Ostermann: Bleiben wir bei Ihrem engeren Fachgebiet, der Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie: Die Angst vor Arbeitslosigkeit wird ja immer wieder genannt, und die ist doch vielfach berechtigt – oder wird sie auch geschürt?

Dörre: Also ich würde sagen, im Moment sinken ja die Arbeitslosenzahlen, auch wenn es oft nur ein statistischer Bereinigungseffekt ist, aber das ist natürlich eine Grundangst, dass man seinen Job verliert und dann seine eigene Existenz nicht mehr aus eigener Arbeit bestreiten kann. Die ist tief verankert, und ich glaube, dass die auch nach wie vor sehr berechtigt ist. Aber es ist nicht nur die Angst vor Arbeitslosigkeit: Wir haben ja insbesondere einen Zuwachs an unsicheren Beschäftigungsverhältnissen – Zeitarbeit, Leiharbeit, befristete Beschäftigung, geringfügige Jobs, Teilzeitarbeit und so weiter –, und da ist es schwierig, auf solche unsicheren Beschäftigungsverhältnisse eine längerfristige, in die Zukunft gerichtete Perspektive zu entwickeln. Und das ist natürlich ein Verlust an Lebensqualität, wenn man immer von einem Monat auf den anderen denken muss.

Ostermann: Das heißt also auch, dass diese vielfachen Beschäftigungen, dass diese Unsicherheit nach Ihrer Einschätzung nicht anstachelt, sondern eher lähmt?

Dörre: Das kommt darauf an. Wenn Sie hochqualifiziert sind, über materielle, kulturelle Voraussetzungen verfügen, eine hohe Qualifikation, dann sind Sie unter Umständen auch in der Lage, Unsicherheit als produktive Herausforderung zu empfinden. Es gibt ja Leute, die fühlen sich sehr wohl in unsicherer Beschäftigung. Für die Mehrzahl derjenigen, die in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen sind, trifft das so nicht zu, die haben nicht genügend Geld, was sie zurücklegen können, um dann auch mal Phasen der Beschäftigungsunsicherheit ohne Weiteres zu überbrücken, und vor allen Dingen sind solche Jobs häufig mit fehlender gesellschaftlicher Anerkennung verbunden. Das ist das, worunter die Leute am meisten leiden. Das gilt auch und gerade für die sogenannten Hartzis, also die Bezieher von Arbeitslosengeld II: Die vorenthaltene gesellschaftliche Anerkennung, der vorenthaltene Respekt – das ist eigentlich das, was so besonders verunsichert und was auch wirklich Ängste auslöst.

Ostermann: Herr Professor Dürre, wie häufig wird eigentlich Angst als Mittel, als Instrument der Demagogie geschürt?

Dörre: Also das ist eine alt bekannte Tatsache. Im Moment fallen ganz wichtige Entscheidungen mit Blick auf die Regulierung der Finanzmärkte oder die fallen auch nicht, und man hat immer wieder Sündenbockdiskussionen, die von solchen gesellschaftlichen Kernthemen ablenken, ob es jetzt die Integration von Muslimen ist oder anderes, eine Unterschicht angeblich passiv und leistungsunwillig und so weiter, und so weiter – da werden immer Urängste mobilisiert, zum Beispiel diese Urangst, dass der Virus der Passivität und der Bildungsunwilligkeit die eigenen Kinder befallen könnte und solche Dinge. Das ist eine altbekannte Tatsache, und sie wird, das muss ich dazu sagen, mitunter auch durch die Medien bestärkt, nämlich dann, wenn man den Tabubruch auch über die Medien inszeniert, der dann Ängste auslöst und dann auch ein gewaltiges Feedback erzeugt.

Ostermann: Können Sie das ein bisschen konkreter machen?

Dörre: Na, Sie haben aktuell ja eine ganze Reihe von Debatten. Ich will nicht wieder die Sarrazin-Debatte anschneiden, aber wir haben ja jetzt schon häufig eine sogenannte Unterschichten-Debatte gehabt, wo immer wieder betont wird oder ein Bild inszeniert wird, dass wir es mit einer passiven Unterschicht zu tun haben, die in der Hängematte des Wohlfahrtsstaates es sich gutgehen lässt, dann kommt das Beispiel mit Florida und so weiter. Wenn Sie genauer hinschauen, da hat das mit der Wirklichkeit wenig zu tun. In unseren eigenen Umfragen treffen wir ganz häufig auf arbeitende Arbeitslose, die alles Mögliche tun, aber nicht passiv sind. Aber es wird eine Angst freigesetzt, etwa die Angst von Bildungsbürgern, die ihre eigene soziale Positionierung ja nur mit Bildungsanstrengung behaupten können, die Angst, dass sozusagen ein solcher Virus der Passivität die eigenen Kinder erreichen könnte. Das ist eine uralte Angst der Mittelschichten, die dann über solche Zerrbilder und solche Diskussionen wieder freigesetzt wird.

Ostermann: Professor Klaus Dörre, Soziologe, er lehrt und forscht an der Universität Jena. Herr Dörre, ich danke Ihnen für das Gespräch heute früh!

Dörre: Ich danke auch!