Soziale Gerechtigkeit

"Größte Ungleichheit von Vermögen in ganz Europa"

Marcel Fratzscher im Gespräch mit André Hatting · 11.03.2014
Die enorme Vermögensungleichheit in Deutschland habe negative Folgen, sagt Marcel Fratzscher. Eine gewisse Chancengleichheit sei wichtig für eine erfolgreiche Wirtschaft, so der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
André Hatting: From rags to riches, vom Tellerwäscher zum Millionär – dieses Glücksversprechen ist so alt wie der Kapitalismus. Es ist ein falsches Versprechen. Das haben linke Ökonomen von Marx bis Negri immer wieder behauptet. Eine neue Stimme in diesem Chor kommt aus Frankreich, das Buch des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Pikkety, "Capital in the Twenty-First Century". Es behauptet: Kapital im 21. Jahrhundert, das heißt, wer hat, dem wird gegeben. Im September ist das Werk in Frankreich erschienen, heute kommt die englische Übersetzung heraus, mit einer riesigen Bugwelle. Der britische "Economist" zum Beispiel hat dem Buch eine ganze Artikelserie gewidmet; fast täglich erscheinen Studien zu diesem Thema, und von einem Wendepunkt in der Forschung war sogar auch schon die Rede. Marcel Fratzscher ist Professor für Makroökonomie und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin. Guten Morgen, Herr Fratzscher!
Marcel Fratzscher: Guten Morgen!
Hatting: Nicht Leistung, sondern Herkunft zählt im Kapitalismus, behauptet Pikkety. Für Sie auch ein Wendepunkt in der Forschung?
Fratzscher: Dieses Resultat ist sicherlich nicht neu, aber es ist sicherlich schockierend, dass über die Zeit diese Herkunft nach wie vor so wichtig ist und auch wichtiger geworden ist. Auch wir im DIW Berlin haben in unserer Studie vor zwei Wochen gefunden, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland immer noch enorm hoch ist – wir haben die größte Ungleichheit von Vermögen in ganz Europa –, und wir wissen auch, dass Menschen mit schlechtem oder schwachem sozialen Hintergrund es enorm schwierig haben, Karrierechancen zu haben. Also auch das zeigt ganz deutlich, auch für Deutschland ist diese Chancenungleichheit nach wie vor enorm wichtig und der soziale Hintergrund eine wichtige Determinante für Karrierechancen und Vermögenschancen.
Hatting: Pikkety geht ja sogar noch weiter und sagt, diese Konzentration des Vermögens, also diese Ungleichheit, die sei Naturgesetz des Kapitalismus. Stimmen Sie zu?
"Schöne Beispiele in den skandinavischen Ländern"
Fratzscher: Nein. Ich stimme nicht zu, dass das automatisch in eine hohe Ungleichheit resultieren muss. Wir haben sehr schöne Beispiele in den skandinavischen Ländern, die die höchsten Pro-Kopf-Einkommen haben, also unheimlich viel Wohlstand geschaffen haben und gleichzeitig es geschafft haben, eine relativ gleiche Verteilung von Einkommensvermögen hinzubekommen. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, eine erfolgreiche Wirtschaft braucht eine gewisse Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit, denn nur, wenn Sie eine hohe soziale Mobilität haben, wenn Sie Chancengerechtigkeit haben, gelingt es Ihnen, wirklich alle Gruppen der Gesellschaft ins wirtschaftliche Leben einzubeziehen. Das schafft wirtschaftliche Dynamik, Wachstum und Wohlstand langfristig. Also, es gibt keinen Widerspruch zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Dynamik.
Hatting: Wie stellt man die her? Wie stellt man diese Dynamik her, und damit auch eine – also etwas weniger Ungleichheit, um es mal so zu sagen.
Fratzscher: Es gibt prinzipiell zwei verschiedene Lösungsansätze, um mit hoher Ungleichheit in Vermögen und Einkommen umzugehen. Die eine ist, Sie schauen sich an, was hernach herauskommt von Einkommen und Vermögen, und versuchen dann umzuverteilen durch Steuern, durch Abgaben, durch Transferleistungen. Oder die Alternative ist, Sie versuchen, das Problem bei der Wurzel zu packen und von Anfang an Menschen gleiche Chancen zu geben. Da muss man natürlich im frühen Alter ansetzen. Deshalb geht es vor allem darum, in den ersten Jahren eine Bildungsgerechtigkeit, gleiche Bildungschancen zu schaffen, und damit kommt man dann schon einen ganzen Schritt weit, um eine hohe Ungleichheit zu verhindern.
Hatting: Herr Fratzscher, Sie haben jetzt gerade bildungspolitisch argumentiert. Pikkety argumentiert ja ökonomisch. Er sagt, die Tatsache, dass das Vermögen bei einigen Wenigen ist und quasi sich durch die Kapitalisierung, durch die Zinsen immer stärker vermehrt als das Vermögen, das man durch die eigene Arbeit erwirtschaftet, das führt eigentlich zu einer Verewigung dieser Ungleichheit. Da kann ja auch Bildung dann nicht so viel dran verändern eigentlich, wenn jemand, der von Hause aus, von seinen Eltern und deren Eltern und so weiter und so fort sehr, sehr, sehr viel Geld hat, der wird auch in Zukunft sehr viel Geld haben, und die anderen eben nicht.
Fratzscher: Das sind zwei Annahmen, die falsch sind. Die eine Annahme dahinter ist, dass –
Hatting: Also Sie widersprechen Pikkety jetzt?
DIW-Chef Marcel Fratzscher
DIW-Chef Marcel Fratzscher© DIW
"50 Prozent haben praktisch kein privates Vermögen"
Fratzscher: Ich widerspreche Pikkety. Auch mit der wissenschaftlichen Evidenz ist so, dass es nicht so ist, dass das Einkommen auf Vermögen unbedingt immer höher sein muss als auf Arbeit. Zweitens wollen wir natürlich, dass auch Menschen mit schwächeren sozialem Hintergrund Vermögen aufbauen. Denn das ist wichtig für die private Vorsorge, fürs Alter, gegen Krankheit, gegen andere Entwicklungen, und da muss der Staat auch die Menschen ermutigen, Vermögen aufzubauen. Wir sehen, dass das vor allem in Deutschland noch viel zu wenig der Fall ist. 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, der Haushalte, Privatpersonen haben praktisch überhaupt kein privates Vermögen. Nur ungefähr 14 Prozent der deutschen Bevölkerung hat Aktien, was ja im Prinzip Vermögen ist, ein Anteil an einem Unternehmen. In den USA, in anderen Ländern ist es deutlich höher. Und all das sind Wege, Menschen zu zeigen, jeder sollte Vermögen aufbauen für die private Vorsorge, um dann auch an dieser Entwicklung teilzuhaben. Und da besteht auch eine der Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik, hier die richtigen Weichenstellungen zu setzen.
Hatting: Danach wollte ich Sie gerade fragen. Denn wie soll jemand Vermögen aufbauen, Aktien kaufen, wenn er gar kein Geld dafür hat?
Fratzscher: Na, es ist ja so, dass wir Deutschen in der Regel enorm viel sparen. Es gibt kaum ein Land, wo private Haushalte, Menschen so viel auf die hohe Kante legen. Die Frage ist, was machen wir mit diesem Ersparten. Und da müssen wir – da zeigt sich die Erfahrung in den letzten 20 Jahren, dass wir dieses Ersparte enorm schlecht angelegt haben, viel zu wenig Vermögen aufgebaut haben. Da müssten wir umdenken. Wir müssen mehr auf die private Vorsorge und im Prinzip auf Vermögensbildung bauen.
Hatting: Was halten Sie von Pikketys Vorschlag einer globalen Vermögenssteuer zwischen 0,1 und zehn Prozent, also je nach Größe des Vermögens?
"Höhere Besteuerung ist sicherlich eine Möglichkeit"
Fratzscher: Eine Besteuerung oder eine höhere Besteuerung ist sicherlich eine Möglichkeit. Die Frage ist, bei Vermögenssteuern ist es praktisch sehr, sehr schwierig, so etwas umzusetzen. Das heißt nicht, dass man es nicht machen kann. Also höhere Steuern auf Einkommen oder Vermögen ist eine Möglichkeit. Allerdings muss man sich auch bewusst sein, dass wir in Deutschland bereits jetzt enorm viel umverteilen. Es gibt wenig Länder, wo die Steuer- und Abgabenlast höher ist als in Deutschland. Meiner Ansicht nach sollten wir uns in erster Linie darauf konzentrieren, die Umverteilung, die wir bisher machen, viel genauer zu machen und besser zu machen, und nicht zuerst fragen, können wir noch mehr Umverteilung machen. Obwohl das sicherlich auch immer eine Option ist, aber meiner Meinung nach sollte es nicht die erste Option sein.
Hatting: Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin, zu den Thesen seines französischen Kollegen Thomas Pikkety. Ich danke Ihnen, Herr Fratzscher!
Fratzscher: Ich danke Ihnen!
Hatting: Das Buch von Thomas Pikkety, "Capital in the Twenty-First Century", erscheint heute auf Englisch, und wer es dann auf Deutsch lesen möchte, der muss sich noch ein bisschen gedulden – bis September 2015 nämlich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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