Sorge um die Zukunft

Rezensiert von Alan Posener · 17.02.2008
Der große Historiker Walter Laqueur, 1921 als Jude in Breslau geboren, schreibt vor allem über Israel - den Staat, den er selbst mit aufgebaut hat. Mit Gelassenheit und Differenzierung bietet sein Buch eine brillante Zusammenfassung von den frühen Wurzeln des Antisemitismus bis heute. Dabei sorgt er sich um die Zukunft der sechs Millionen Juden, die in Israel leben.
Noch ein Buch über den Antisemitismus. Kann man wirklich etwas Neues über dieses uralte Thema sagen? Vielleicht nicht. Aber das, was es darüber zu sagen gibt, von den Wurzeln des Antisemitismus im frühen Christentum bis zum heutigen Antisemitismus im Islam und in Teilen der Linken, hat selten einer so brillant zusammengefasst wie jetzt Walter Laqueur.

Der große Historiker und Raconteur weiß, wovon er spricht. 1921 als Jude in Breslau geboren, floh er 1938 nach Palästina. Dort erlebte er den Triumph und die Tragödie des Zionismus. Dreißig Jahre lang war Laqueur Direktor der führenden Institution zur Erforschung des Antisemitismus, der Wiener Library in London.

"Ich gehöre zu den letzten noch lebenden Angehörigen einer Generation, die den europäischen Antisemitismus in seiner extremsten Form selbst erlebt hat. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Angehöriger meiner Generation, der Eltern und Verwandte in dieser Periode verloren hat, auf den Gedanken käme, den Antisemitismus als lächerlich und nebensächlich zu behandeln. Andererseits wird er, da er den extremen und mörderischen Antisemitismus kennengelernt hat, kaum zu Überreaktionen neigen und nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen."

Der größte Vorzug des neuen Buches von Walter Laqueur ist die Gelassenheit und die Bereitschaft zur Differenzierung: zwei Tugenden, die in der deutschen Diskussion eher selten sind. So schreibt er - um gleich zur Sache zu kommen - über Israel, den Staat, den er selbst mit aufgebaut hat:

"Dass Kritik an Israel nicht per se Antisemitismus darstellt, ist derart selbstverständlich, dass man es eigentlich kaum noch einmal wiederholen müsste. Wenn Israel seine nichtjüdischen Bürger nicht gleich und human behandelt, wenn es gegen den Willen der örtlichen Bevölkerung an der Besetzung 1967 okkupierter Gebiete festhält, wenn es sich anderswo illegal Land aneignet, wenn eine rassistisch-chauvinistische Randgruppe der israelischen Gesellschaft dem Recht und den grundlegenden Menschenrechten Hohn spricht und der Regierung in beträchtlichem Ausmaß ihr empörendes Handeln diktiert, dann lädt solches Verhalten geradezu zur Verurteilung ein."

Warum aber erregt das Handeln Israels im Westen und in der islamischen Welt eine solche Empörung, während etwa Russlands ungleich grausamere Behandlung der moslemischen Tschetschenen oder Chinas Unterdrückung der Uiguren kaum mehr hervorruft als ein Schulterzucken?

"Friedensforschern zufolge sind seit dem Zweiten Weltkrieg 25 Millionen Menschen in inneren Auseinandersetzungen getötet worden, 8000 davon im israelisch-palästinensischen Konflikt. Damit rangiert er der Opferzahl nach an 46. Stelle der inneren Konflikte. Aber Israel ist von den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen öfter verurteilt worden als alle anderen Staaten zusammengenommen. Das bringt uns zu der Tatsache zurück, dass Israel in besonderer Weise zum Angriffspunkt gemacht wird, und zu der Frage, ob dies fair ist oder nicht, gerechtfertigt Anprangerung oder Antisemitismus."

Wer Laqueurs Buch gelesen hat, wird diese Frage nicht vorschnell beantworten wollen. Aber er wird den sehr bestimmten Eindruck gewinnen, dass die Juden machen können, was sie wollen: Den anderen wird es nicht recht sein.

Im Europa der Vorkriegszeit legte man ihnen nahe, nach Palästina zu gehen; heute wirft man ihnen vor, Palästina gehöre ihnen nicht. Der alten Rechten galten die Juden als heimatlose Linke und Kosmopoliten; der neuen Linken gelten sie als Agenten des Kapitals und Vertreter eines überholten Nationalismus. Als sich die Juden in Shtetl und Ghetto absonderten, warf man ihnen ihre mangelnde Bereitschaft zur Assimilation vor; als sie sich assimilierten, warf man ihnen vor, ihr grundlegend anderes, asiatisches Wesen heimtückisch zu tarnen.

Man schmiss sie aus einem europäischen Land nach dem anderen heraus und hielt ihnen gleichzeitig ihren Mangel an Vaterlandsliebe und Verwurzelung vor. Den Polen waren ihre Juden zu arm, den Ungarn ihre Juden zu reich; in Deutschland unterstellte man ihnen Sympathien mit dem Erzfeind Frankreich, in Frankreich Sympathien mit Deutschland. Die Christen kritisierten ihre gnadenlose, alttestamentarische Moral; Religionskritiker machten ihnen die Erfindung der seichten Moral des Christentums zum Vorwurf. Und so weiter und so fort.

Diese Erfahrung, dass ein Jude seinem Judentum - und damit der Diskriminierung - nicht entkommen kann, steht am Anfang des Zionismus eines Leon Pinsker oder Theodor Herzl. Andere leugneten diese Erfahrung, vor allem jene Juden, die sich in den internationalistischen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts engagierten:

"Diese Revolutionsführer verstanden sich selbst nicht als Juden, sondern als Soldaten in der revolutionären Armee, doch so nahmen andere sie nicht wahr."

Fremdenfeindlichkeit, Misstrauen, Neid, Missgunst, Aggression und Angst gegenüber dem Anderen, dem unterstellt wird, andersartig zu sein - das sind Konstanten menschlichen Verhaltens. Ethnische, sprachliche, religiöse und kulturelle Minderheiten hatten in allen Ländern zu allen Zeiten darunter zu leiden. Da die Juden seit der Antike eine internationale Diaspora bilden, sind sie sozusagen die Ur-Minderheit, das universelle Hassobjekt. Diesem Hass hat freilich erst das Christentum das ideologische Rüstzeug geliefert.

"Die Feindseligkeit wurde mit jeder Generation frühchristlicher Interpreten schärfer: Gott habe das einst auserwählte Volk verstoßen, die Tora sei nicht mehr rechtsgültig; die Juden hätten gesündigt und seien aus der Gnade gefallen, kurz: Gott hasse sie. Selbst gemäßigte Kirchenmänner wie Augustinus zeigten kaum christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Nach seiner Ansicht war der Verräter Judas Ischariot das wahre Abbild der Juden, und die Schuld an Jesu Tod würde für immer auf ihnen lasten. Die Antisemiten späterer Jahrhunderte, einschließlich der Nationalsozialisten, die ansonsten nicht viel für das Christentum übrig hatten, ließen sich von solchen Äußerungen inspirieren."

Und nicht nur sie. Wie Laqueur überzeugend nachweist, wurde der moderne Antisemitismus vor allem durch arabische Christengemeinden in die arabische Welt getragen, wo die Mehrheit der Juden lebte - als Bürger zweiter Klasse zwar, wie die Christen, aber in aller Regel besser als in Europa vor der Aufklärung.

Beginnend mit der Damaskus-Affäre 1840, wurde immer wieder der mittelalterliche Ritualmordvorwurf gegen die Juden von katholischen oder griechisch-orthodoxen Geistlichen vorgebracht. Heute ist die Vorstellung, die Juden würden das Blut arabischer Kinder zum Backen der Pessach-Brote verwenden, fester Bestandteil antisemitischer islamistischer Propaganda.

Wie ist es nun um die Zukunft des Antisemitismus bestellt? In Europa und Amerika scheint er kaum eine Chance zu haben. Die Assimilation der Juden schreitet voran, die jüdischen Gemeinden verlieren durch Mischehen und Abkehr von der Religion Mitglieder.

"Möglicherweise wird die für eine Bewegung wie den Antisemitismus nötige kritische Masse nicht mehr vorhanden sein."

Als Objekt fremdenfeindlicher Demagogie eignen sich in Europa die neuen Einwanderer aus dem islamischen Raum besser. Unter ihnen wiederum propagieren Sender wie Al Dschasira einen virulenten Antisemitismus, der nicht einzelne Aspekte der israelischen Politik kritisiert, sondern die Vernichtung des jüdischen Staats fordert. Bald könnten islamische Wähler in einzelnen Ländern die kritische Masse erreicht haben, die notwendig wäre, um eine Änderung der Politik gegenüber Israel durchzusetzen. Verschiedentlich buhlen linke Parteien mit um die Stimmen dieser Wähler. Heißt das, Europas Juden müssten sich heute mit der Neuen Rechten gegen den Islamismus verbünden?

Laqueur lässt diese Frage offen. Dem Konservativen mit seinen Wurzeln in der alten europäischen und zionistischen Linken ist aber das Unbehagen an einer solchen Vorstellung ebenso anzumerken wie die Sorge um die Zukunft der sechs Millionen Juden, die im winzigen Israel leben. Sein Buch, geschrieben in der besten Tradition der europäischen Aufklärung, kann denn auch als Appell an die Linke gelesen werden, sich dieser Tradition zu besinnen und sie nicht einer unkritischen Dritte-Welt-Romantik oder dem Opportunismus zu opfern.

Der Kampf gegen den Antisemitismus ist nicht primär eine Frage von Auschwitz-Gedenkveranstaltungen, Kritik an ewiggestrigen Geschichtsrevisionisten oder dummen Skinheads, so wichtig das alles sein mag. Er bedeutet vor allem, über alle Kritik im Einzelnen hinweg, die Verteidigung Israels. Der Antisemitismus hat viele Gesichter, doch alle sind reaktionär.

Walter Laqueur: Gesichter des Antisemitismus - Von den Anfängen bis heute
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt,
Propyläen Verlag, Berlin 2008