Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport drückt Afrika die Daumen

05.06.2010
Der Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport im Dienst von Entwicklung und Frieden, Willi Lemke, hofft bei der FIFA WM auf ein erfolgreiches Abschneiden mindestens einer afrikanischen Mannschaft. Die WM drohe ein jähes Ende zu finden, wenn keine afrikanische Mannschaft die Vorrunde überstehe.
Deutschlandradio Kultur: Bevor wir über Fußball, die schönste Nebensache der Welt, reden, eine Frage an den SPD-Politiker und ehemaligen Bremer Bildungs- und Innensenator: Herr Lemke, was soll denn die Jugend von einem Bundespräsidenten halten, der – wenn er mal kritisiert wird – einfach die Brocken hinwirft?

Willi Lemke: Ich glaube, dass man so einfach, wie Sie es jetzt dargestellt haben, nicht verkürzen darf. Ich glaube, da haben Dinge eine Rolle gespielt, über die wir jetzt nicht informiert sind, so umfassend, dass ich Ihnen das korrekt beantworten kann. Ich glaube, da gibt es noch Geschichten drum herum. Und ich war genauso geschockt, wie der Großteil in der Bevölkerung. Ich habe ihn unheimlich verehrt. Ich habe sehr gern mit ihm zusammengearbeitet. Und wir haben ganz konkret drei Termine jetzt vor uns gehabt. Beim Eröffnungsspiel in Afrika hätte ich ihn getroffen. Wir hätten gemeinsam die Special Olympics in Bremen eröffnet. Und ich hatte mich bei ihm angemeldet. Im August hätte ich einen Termin bei ihm. Ich bin sehr, sehr traurig, dass ich mir diese Termine jetzt in die Haare schmieren kann, die nicht vorhandenen.

Deutschlandradio Kultur: Wird er Ihnen fehlen, gleichsam als Botschafter für Afrika?

Willi Lemke: In dieser Rolle habe ich ihn besonders geschätzt und verehrt. Nun kann ich jetzt noch nicht sagen, was ich in einem Vierteljahr darüber denke. Im Augenblick bin ich nach wie vor geschockt und kann das nur schwer nachvollziehen. Aber, wie gesagt, ich maße mir kein Urteil an, bevor ich nicht wirklich die Hintergründe kenne. Ich würde gerne mal mit ihm ein Glas Wein trinken – irgendwann auf Abstand – und dann mal erfahren, warum er wirklich zurückgetreten ist.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja selbst Politiker gewesen und noch SPD-Mitglied. Wie erklären Sie sich das eigentlich im Moment, dieses Phänomen, dass Leute tatsächlich schnell zurücktreten aus unterschiedlichen Gründen? Fehlt es uns im Moment an Führungsfiguren in der Politik, die tatsächlich sagen, hier geht's lang und wir wollen tatsächlich ein Projekt umsetzen?

Willi Lemke: Ich weiß nicht, ob es richtig ist, das so zu sagen. Der ehemalige Kanzler Kohl, der sitzt das alles aus. Der wird attackiert und angegriffen. Und alle Journalisten Deutschlands kritisieren, dass der nicht einen einzigen Moment mal irgendwann an Rücktritt denkt. Und jetzt, wo ein Politiker, ein Staatsoberhaupt zurücktritt, aus welchen Gründen jetzt auch immer, da sagen wir: Ist der jetzt vielleicht zu schwach? Oder kann der keine Kritik vertragen? Ich finde, das ist ein bisschen unfair. Ich respektiere diesen Menschen und ich habe große Hochachtung vor seiner Leistung.

Deutschlandradio Kultur: In der nächsten Woche beginnt die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Was glauben Sie, Herr Lemke, wird das Land am Kap der Guten Hoffnung von diesem Großereignis nachhaltig profitieren?

Willi Lemke: Das hoffen wir bei den Vereinten Nationen alle – und auch bei der FIFA. Wir haben innenpolitisch die Hoffnung, dass es so etwas gibt wie "Nation Building", was wir übrigens auch in Deutschland schon gesehen haben. Da sind die Deutschen durch den Fußball zehnmal mehr dichter zusammengerückt als durch jeden politischen Appell oder jede Bundestagsresolution. Und außenpolitisch hoffe ich das Gleiche. Dass wir, die wir uns in Deutschland so super dargestellt haben – ich kriege das überall mit, wenn ich durch die ganze Welt düse, dass die Leute sagen: "Ihr könnt ja Party machen, ihr geht ja zum Lachen nicht nur in den Keller. Ihr seid sonst doch immer so überdiszipliniert und überpünktlich." Und damit gehen wir vielen Menschen auf der ganzen Welt ziemlich auf den Wecker. Und wir konnten das sehr positiv darstellen.

Ich habe jetzt die Hoffnung, viele andere auch, dass die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika das Bild, das wir in der Regel in den entwickelten Ländern von Afrika haben, ein bisschen korrigiert wird. Zum Beispiel: "Eyh, die haben die Stadien wunderbar hingekriegt." Wie viele Journalisten haben vor einigen Jahren gesagt: "Das schaffen die nie. Da sind die ja Lichtjahre von entfernt. Mit der Wirtschaft und mit der ganzen Situation kriegen die nie hin!" Sie haben fantastische Stadien hinbekommen. Sie werden den Transport hinbekommen. Wir werden schöne Spiele erleben, farbige, bunte, grelle, afrikanische Spiele, keine westlichen, europäischen – bitte vergleichen Sie das nicht mit der Weltmeisterschaft in Deutschland, was die Durchführung angeht. Wir wollen das immer alles perfekt haben. Vieles wird bei den Afrikanern nicht perfekt sein, aber es werden Spiele sein, die innenpolitisch eine Wirkung erzielen werden – hoffentlich – und außenpolitisch genauso.

Es kommen anschließend, wenn das Afrikabild korrigiert werden kann, und ich hoffe das sehr, wieder mehr Touristen auf den Kontinent. Denn das sind ja nicht nur Spiele für Südafrika, sondern für den ganzen Kontinent. Und ich hoffe, dass westliche Investoren verstärkt investieren, um dort Arbeitsplätze und Ausbildung in das Land zu bringen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben das gerade mit Deutschland verglichen. Mit dem "Partymachen" war es ja in Deutschland allerdings schnell nach der WM 2006 wieder vorbei. Und die Fahnen wurden ja auch so lange nicht mehr geschwungen. Also, vielleicht ist Deutschland doch nicht so das gute Beispiel.

Willi Lemke: Nein, sehe ich völlig anders. Ich habe sehr, sehr gute Erfahrungen gemacht. Ich war zu der Zeit Bildungs- und Wissenschaftssenator in Bremen. Und wenn die Schüler ihre Lehrer bitten, die Nationalhymne auswendig lernen zu dürfen, die sie bis zu dem Tag offensichtlich noch nicht gelernt hatten, das ist etwas, was uns entkrampft hat. Diese Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat uns entkrampft gegenüber unseren Symbolen. Und das hat auch so etwas wie Nationalstolz geweckt, nichts angeordnet, etwas sehr Natürliches, etwas für mich sehr Sympathisches.

Deutschlandradio Kultur: Dann gehen wir aber noch mal auf den afrikanischen Kontinent und hoffen, dass das, was Sie erzählt haben, sich verwirklichen wird. Horst Köhler wird es sicherlich auch freuen als bekennender Freund dieses afrikanischen Kontinents.

Wenn man aber in letzter Zeit die Medienberichterstattung angeguckt hat, beispielsweise den Verkauf auch der Tickets, dann hat man eher den Eindruck, diese Veranstaltung ist eine Veranstaltung der Reichen, die mit Mastercard und im Internet ihre Tickets kaufen, aber nicht für die Leute, für die Sie auch als UN-Sonderbeauftragter unterwegs sind.

Willi Lemke: Gegenfrage: Sind Sie der Auffassung, dass die Weltmeisterschaft, die in unserem Land stattgefunden hat, für die Hartz-IV-Empfänger konzipiert worden ist von der FIFA?

Deutschlandradio Kultur: Nee, aber die konnten alle am Fernseher zuschauen. Die konnten teilweise auch in die Stadien gehen und zumindest beim Public-Viewing dabei sein.

Willi Lemke: In die Stadien konnten sie garantiert nicht reingehen. Und selbst das Public-Viewing in Deutschland hat Geld gekostet. Ich sage Ihnen: Die Menschen in Südafrika, auf dem ganzen Kontinent, werden alle Möglichkeiten suchen und finden, dass sie live am Fernseher dabei sein werden. Ich hab an verschiedenen Orten, das glauben Sie gar nicht, in Flüchtlingslagern, in Slums und in Townships Internetcafés, Fernsehapparate, alte Dinger gesehen, aber die sind gelaufen. Und da haben die Menschen nicht so fein gesessen, wie in Bierlokalen, oder nicht alles vom Feinsten gehabt, sondern die haben da gestanden mit drei-, vier-, fünfhundert, sechshundert Leuten vor kleinen Fernsehern oder kleinen Leinwänden. Die werden diese WM erreichen.

Was nicht passieren wird: Es werden nicht jungen Menschen aus den Townships sein, die keine Arbeit haben. Die werden keine Möglichkeit haben, in die Stadien zu gehen, so wenig, wie sich hier ein Hartz-IV-Empfänger eine Eintrittskarte hat erlauben können.

Deutschlandradio Kultur: Wobei die FIFA jetzt seit Kurzem Karten für 14 Euro verkauft für Schwarzafrikaner, die vor wenigen Wochen noch 50, 60 oder 100 Euro gekostet haben. Da hat sich natürlich schon was getan.

Willi Lemke: Ja, wunderbar. Ist das nicht toll? Ist das nicht klasse?

Deutschlandradio Kultur: Dann war es eine falsche Strategie vielleicht am Anfang.

Willi Lemke: Sie haben offensichtlich da den Markt falsch eingeschätzt. Aber der Markt entscheidet nachher. Angebot und Nachfrage entscheiden nachher über den Preis. Und trotzdem sage ich Ihnen: Ich glaube nicht, dass trotz der 14 Dollar, auch das ist ja noch viel Geld für einen Afrikaner, der keine Arbeit hat und irgendwo im Township lebt, die Massen von ganz armen Menschen aus Südafrika in die Stadien gehen. Und ich glaube sogar – und das ist doch menschlich -, dass ein Bauarbeiter, der einen normalen Lohn nach Hause bringt, wenn er dann ein Ticket bekommt, was meinetwegen damals 50 oder 60 Dollar gekostet hat, dass der das lieber verkauft und sagt: "Ich guck mir das zu Hause am Fernseher an, also, in meinem Township. Da gibt's ein paar Apparate, wo wir das gemeinsam angucken können. Da hole ich mir lieber zwei Flaschen oder zwei Dosen Bier, mach Party zu Hause und verscheuere die Karten." Also, ich finde das nicht unredlich, sondern das ist doch der politischen und gesellschaftlichen Situation geschuldet.

Ich sage Ihnen aber eins: Ich war in der Longstreet in Kapstadt, als die große Auslosung war. Ich war nicht im großen Festsaal, sondern ich bin rausgegangen zu den Menschen auf der Longstreet. Ich schätze, da waren, so stand es jedenfalls in der Zeitung, hundert- bis hundertzwanzigtausend Leute. Davon hatten nicht viele meine Hautfarbe. Da war Party angesagt, und zwar ohne massiven Alkoholkonsum, weil offensichtlich Alkohol viel zu teuer ist, dass die ganzen Menschen sich das nicht erlauben konnten. Aber das war Party. Die sind durch die Straßen gelaufen als ginge es da um die Polonaise nach Blankenese, eingereiht, umarmt, lachend, singend. Das hat mit unheimlich beeindruckt.

Deutschlandradio Kultur: Die Verbindung, Herr Lemke, von Fußball und Politik ist ja nicht erst seit dieser WM in Südafrika bedeutsam. Sie sind seit gut zwei Jahren Sonderberater des UN-Generalsekretärs für "Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung", ich glaube, das ist der korrekte Titel. Was kann denn der Fußball leisten, was die Politik nicht schafft?

Willi Lemke: Ich habe eben gerade das Beispiel gebracht mit dem Verhalten der Deutschen zu ihren Symbolen, ein ganz konkretes Beispiel. Ein anderes Beispiel, ich weiß nicht, ob Sie das kennen, das habe ich bei Bartholomäus Grill nachgelesen, der von Didier Drogba berichtet hat, dass der in der Kabine der Elfenbeinküste, der Nationalmannschaft, auf die Knie gegangen ist, als dort der Bürgerkrieg getobt hat, und mit ihm sind alle Mannschaftskollegen auf die Knie gegangen, und hat eine Ansprache live im Fernsehen aus der Kabine, die hatten sich gerade qualifiziert für die WM, hat er eine Ansprache an die Nation gehalten. – Da ist enorme Glaubwürdigkeit. Also, der hat gesagt: "Streckt die Waffen nieder. Hört auf, euch gegenseitig umzubringen. Ihr habt doch gesehen, wie wir als Fußballnationalmannschaft aus allen Schichten zusammenkommen, aus allen Regionen zusammenkommen, wie wir für unser Land heute gekämpft haben und auch erfolgreich gekämpft haben. Legt die Waffen nieder." Das ist eine Botschaft. So stark wird kein Politiker das rüberbringen können, wie das der Sport kann.

Und ich bin natürlich in meinem jetzigen Amt bei den Vereinten Nationen nicht dafür da, jetzt nur auf den Elitesport zu gucken. Ich gucke: Wie können wir den Sport nutzen bei den Ärmsten der Armen in der Welt, um den Sport, den Fußball zu nutzen als Mittel für Entwicklung und Frieden?

Deutschlandradio Kultur: Erzählen Sie mal ein konkretes Beispiel.

Willi Lemke: Konkretes Beispiel, auch aus der Elfenbeinküste, aus Bouaké. Das ist ein Ort, der ist von den Rebellen besetzt. Da habe ich ein Sportprojekt kennengelernt, ein Judo-Projekt, das lief wunderbar. Ich bin immer auf der Suche nach guten Projekten und versuche die dann zu kopieren als Best-Practice-Modelle. Und dann ging ich anschließend zu den Blauhelmen, denn die haben mich dort rund um die Uhr bewacht, damit ich da nicht mit einmal koppheister gehe. Und da zeigt mir der pakistanische Commander einen Acker und sagt: "Da baue ich jetzt für meine Leute einen Bolzplatz. Für meine Leute heißt für meine Soldaten". Ich sage, "Commander, wer baut Ihnen das, welche örtliche Baufirma?" – "Nee," sagt er, "das können wir alles ganz alleine. Wir haben genügend Arbeiter. Wir haben Ingenieure. Wir haben schweres und leichtes Gerät, das können wir alleine". – Ich sage: "Herr Commander, könnten Sie sich denn vorstellen, dass Sie auch so einen Bolzplatz für die Kinder und Jugendlichen in Bouaké bauen können?" Da guckt er ein bisschen merkwürdig, als hätte ich die Achtung verloren vor dem Militär.

Und was ist passiert? Am 24. Dezember 2009 ist der Bolzplatz von Bouaké von den Blauhelmsoldaten übergeben worden. Ich habe Ban-Ki-Moon, meinem Chef, das erzählt. Der war total begeistert, dass in diesem Krisen- und Spannungsgebiet die Blauhelmsoldaten sich der Bevölkerung auf diese Art und Weise zeigen, dass er denen einen Brief geschrieben hat. – Acht Wochen später hatten wir den nächsten Bolzplatz an der Elfenbeinküste, gebaut durch Blauhelmsoldaten. Und die UN-Mission dort überlegt, dass sie die restlichen Mittel, die wir am Jahresende über haben, für Sportprojekte einsetzen, um dort die Menschen zu erreichen, um mit dem Sport einen klitzekleinen Schritt in Richtung auf Frieden zu marschieren. – Nur als ganz kleine Beispiele.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie nicht einen allzu großen Etat. Der ist im Vergleich zu dem, was die FIFA an Vermarktungsrechten und Fernsehlizenzen und Sponsoring verdient, relativ bescheiden. Finden Sie trotzdem eine offene Tür, wenn Sie mit der FIFA, den dort Verantwortlichen reden und sagen, Leute, das ist irgendwie auch eine Zukunft und ihr solltet uns da mehr unterstützen? Kriegen Sie da Geld?

Willi Lemke: Also, ich habe ja überhaupt kein Projektbudget. Das ist ja sehr bedauerlich, aber manchmal auch ganz hilfreich. Weil, wenn man kein Geld hat, wird man meist sehr kreativ. Das habe ich bei Werder Bremen schon vor 30 Jahren so praktiziert mit den Altvorderen Rehhagel, Böhmert und anderen. Man wird ja, wenn man ganz viel Geld hat, auch ein bisschen – darf ich das so sagen – "versaut". Da haut man die Kohle raus und fragt sich dann anschließend, war das eigentlich alles nötig.

Die FIFA ist der Weltverband, der das meiste tut im Bereich der sozialen Verantwortung – mit Abstand. Aber es ist mit Abstand wahrscheinlich auch der reichste Verband, dem es sehr leicht fällt, Geld auszugeben. Manchmal wünsche ich mir natürlich: Eyh, die haben so viel Möglichkeiten, so viel finanzielle Mittel, warum tun sie nicht mehr? – Jetzt haben sie zum Beispiel 20 Football-for-Hope-Centren gebaut oder die Absicht besteht. Das erste habe ich mit eröffnen dürfen in Cape Town. Und das ist fantastisch. Da ist ein Spielfeld. Da gehören Betreuer dazu. Da gehört so eine Art Freizeitheim dazu. Da sind Computer drin. Da gibt's eine Internetverbindung. Das ist hoch, hoch attraktiv für die Jugendlichen. Aber das sind 20 für Afrika. Es gibt 53 Staaten in Afrika und es gibt 20 Bolzplätze.

Also, ich fände es toll, wenn dieser Gedanke, und den finde ich total gut von der FIFA, aber wenn die jetzt sagen: Komm, wir können doch mal mit ein paar Regierungen sprechen, mit ein paar NGO und Stiftungen, dass wir sagen, das Mindeste ist doch, was jedes Land haben muss, dass man sagt, das Vermächtnis der Weltmeisterschaft ist, zwei solche Einrichtungen in ganz Afrika. Das hieße nicht 20, sondern bitte 104 für Afrika. – Dann wäre es immer noch ein klitzekleiner Tropfen auf den heißen Stein, aber es wäre ein bisschen mehr, ein bisschen stärkeres Engagement.

Wie gesagt: Ich bin nicht kritisch und ich bin nicht sauer, dass die so wenig machen, weil ich weiß, die machen viel mehr als alle anderen, weil sie die Möglichkeiten dazu haben. Und ich begrüße diese Möglichkeiten. Ich kritisiere nicht die FIFA, dass sie zu wenig machen, sondern ich begrüße, dass sie etwas machen.

Deutschlandradio Kultur: Machen wir es eine Nummer kleiner als die FIFA. Wünschen Sie sich von der Bundesregierung mehr Engagement in Sachen Sport und Demokratieförderung, in der Entwicklungshilfe?

Willi Lemke: Natürlich, das ist ja auch klar. Aber ich will bescheiden sein. Die Bundesregierung hat mich vorgeschlagen für dieses Amt, da darf man nicht unbotmäßig hart kritisieren. Aber ich kann Ihnen sagen, ohne was zu verraten, dass ich der alten Ministerin und auch dem neuen Minister auch mit auf den Weg gegeben habe, bitte, bitte, macht mehr für den Sport. Ihr macht einen Fehler, wenn ihr nur ein Prozent der entwicklungspolitischen Ausgaben für den Sport ausgebt. Das ist viel zu wenig. Du kannst mit Sport so unglaublich viel erreichen. Und, wie gesagt, nur ein Prozent des gesamten Haushalts, der ohnehin zu gering ist, wir schaffen ja nicht die 0,7 Prozent, die wir uns eigentlich mal vorgenommen haben, aber von diesen 0,7 Prozent, die wir nicht erreichen, davon schaffen wir nicht mal von der Gesamtsumme ein Prozent auszugeben für Sportprojekte.

Meine Argumentation ist natürlich: Begreift das, dass das eine unglaublich multiplizierende Kraft hat für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, wenn wir Sportprojekte machen. Die machen ja nicht nur Sport des Sports wegen, sondern wir fangen die Kinder und Jugendlichen ja ein mit dem Sport als Köder, um sie auch zu anderen Fragen zu bringen.

In Afrika erlebe ich immer wieder Fußballspiele, selbst organisierte Fußballspiele, in dem Sinne, dass da jemand ist, der sagt, setzt ihr euch mal zusammen und bestimmt die Regeln. Und wir reden nicht nur über den reinen Sport, sondern wir reden am Schluss der jeweiligen Übungseinheit auch über Aids- und HIV-Vorsorgeprojekte. Und ich habe in Kamerun bei einem Spiel erlebt, da stand es 2:2, denke ich, na ja, jetzt gibt's eine Verlängerung und Elf-Meter-Schießen. Pustekuchen. Der Schiedsrichter hat gesagt: Setzt euch da mal hin, hat einen Fragebogen rausgeholt und dann haben sie ein Quiz gemacht. Dann mussten die beiden Mannschaften Fragen zum Thema Aids/ HIV beantworten. Und die Mannschaft, die nachher die meisten Fragen richtig beantwortet hatte, nach dem Unentschieden auf dem Fußballfeld, die hat das Spiel gewonnen.

Deutschlandradio Kultur: "Wichtig ist auf dem Platz", Herr Lemke, hat mal ein berühmter Trainer gesagt. Morgen macht sich die deutsche Fußballnationalmannschaft auf ihren Weg zur Weltmeisterschaft. Beckenbauer glaubt ja an den vierten Titel. Was trauen Sie unserer Mannschaft zu?

Willi Lemke: Das wäre sensationell, wenn wir ernsthaft den Titel da erringen würden. Ich glaube das eher nicht. Die Stärke der Mannschaft ist enorm geschwächt. Allerdings hat unser alter Trainer Otto Rehhagel immer gesagt, wenn Rudi Völler und andere sich verletzt hatten und ich schon kreideweiß vorm Spiel war, da hat er immer gesagt: Herr Lemke, nicht wichtig ist, wer spielt, sondern wie sie spielen. – Aber wenn ich ganz realistisch bin, würde ich ein Erreichen des Halbfinales als einen großen Erfolg ansehen. Ich sehe andere Mannschaften vor uns.

Fragen Sie in der Fußballwelt, in der Sportwelt wen immer Sie wollen. Die haben alle nach der grandiosen Europameisterschaft die Spanier ganz oben auf ihrem Tippzettel. Dann gibt's Argentinien als Geheimfavorit. Dann gibt's immer als Favorit die Brasilianer. Und meine Hoffnung ist – neben natürlich der patriotischen Pflicht, Deutschland die Daumen zu drücken –, eine afrikanische Mannschaft sollte möglichst ganz weit nach vorn kommen. Weil, diese afrikanische Weltmeisterschaft kann natürlich ein jähes Ende finden, wenn die Vorrunde keine afrikanische Mannschaft überstehen sollte. Das wäre ja furchtbar. Meine Hoffnung ist eben, auch aus politischer Sicht zu sagen, Mensch, das haben die Menschen so verdient, dass sie nicht nur tolle Stadien bauen können und ein tolles Event ausrichten können, sondern dass sie auch auf dem Kontinent zeigen können, wir Afrikaner können uns mit den großen Sportnationen der Welt messen.

Deutschlandradio Kultur: Nun bleiben wir noch mal bei unseren Jungs, denn viele drücken denen natürlich die Daumen. Jetzt hat sich der Bundestrainer sehr stark für eine junge Mannschaft – aus der Not gezwungenermaßen oder aber auch vom Konzept her – entschieden. Bräuchte er nicht auch noch zwei, drei, vier, fünf erfahrene Spieler, die möglicherweise den Laden zusammenhalten – so jemanden wie Torsten Frings vielleicht?

Willi Lemke: Erstmal ist es vorbei. Wir können noch Kaffeesatzleserei hinterher machen, warum er das denn jetzt nicht gemacht hat. Ich halte das persönlich für einen Fehler. Aber wissen Sie, wir haben im Augenblick mindestens 20 Mio. Bundestrainer in Deutschland. Und jeder hat seine eigenen Vorstellungen. Und richtig verantwortlich ist Jogi Löw. Und Jogi Löw muss mit dieser jungen Truppe Erfolg haben. Wenn er keinen Erfolg haben wird, dann wird das seine letzte WM gewesen sein. Davon bin ich fest überzeugt. Und wenn er mit diesen jungen Sprintern jetzt ins Halbfinale zieht oder womöglich noch einen Schritt weiter kommt, dann hat er bewiesen, dass man mit einer jungen – ich würde das mal so eine "Indianertruppe" nennen – Erfolg hat. Ich würde mir wünschen, dass er noch den einen oder anderen Häuptling benannt hat. Sie haben einen Namen gerade genannt mit diesem Häuptling. Den kenne ich besonders gut und ich habe gesehen, welche unglaublich starken Leistungen dieser ältere Herr in den letzten Wochen und Monaten noch vollbracht hat. Der hat die Erfahrung aus unendlich vielen Länderspielen und Europapokalspielen. Der weiß, wenn es brenzlig ist, auch die jungen Leute wieder in den Hintern zu treten und zu motivieren, nicht aufzustecken, sondern auch noch in der 80. oder 85. Minute weiter anzurennen. Ich hätte Torsten Frings auf jeden Fall mitgenommen nach Südafrika, als Ballack ausgefallen ist.

Es ist sehr gefährlich, nur mit jungen Spielern zu arbeiten. Hier zitiere ich noch mal Otto Rehhagel: Wenn Sie ein Problem haben in der Firma, werden Sie dann nur mit Auszubildenden da rangehen oder mit Gesellen? Nee, Sie werden natürlich auf jeden Fall den einen oder alten Meister dazu rufen und sagen, wie sind deine Erfahrungen. Wie würdest du dieses Problem jetzt hinkriegen? – Also, eine gute Mischung, das ist immer das Entscheidende. Da ist meine Philosophie immer im Fußball gewesen. Du musst eine gute Mischung finden aus jungen Sprintern und Rennern und Kämpfern und den alten Säcken, die den Laden zusammenhalten.

Deutschlandradio Kultur: Ich möchte noch mal kurz auf die Politik zurückkommen, weil Sie auch UN-Sondergesandter sind und ein Buch veröffentlicht haben, in dem Sie sich auch über den Gaza-Streifen äußern und ein Zitat, das wir bemerkenswert finden, geäußert haben. Sie sagen, das sei das "größte Freiluftgefängnis der Welt". Wenn jetzt Israel in dieser Woche mit Gewalt und jenseits des Völkerrechts Hilfslieferungen nach Gaza verhindert, was geht Ihnen denn da durch den Kopf als jemand, der für Frieden, Sport unterwegs ist in der Weltgeschichte, der Politik gemacht hat, der Integration sucht?

Willi Lemke: Ich war, wie ganz, ganz viele Menschen in der Welt, bitter enttäuscht und traurig, als ich das erlebt habe. Niemand konnte sich vorstellen, dass ein Hilfskonvoi auf die Art und Weise gekapert wird mit, man weiß nicht wie vielen, ich habe von neun Todesopfern gehört und von vielen Verletzten. Dies ist ein schwerer Schlag gegen alle Friedensbemühungen von ganz vielen und auch ganz wichtigen Menschen, angefangen von Barack Obama und vielen anderen, die sich einsetzen, Frieden zu schaffen.

Ich habe bewusst damals Gaza und das Westjordanland besucht, durchaus auch mit voller Rückendeckung vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, weil ich gelesen hatte, das Boutros Boutros-Ghali gesagt hat: Wenn wir nicht den jungen Menschen in Gaza eine Hoffnung geben auf eine bessere Zukunft, werden wir sehen, dass diese Jugendlichen, die jetzt die Bombenangriffe in Gaza erlebt haben, damals im Januar/ Februar letzten Jahres, die werden automatisch die nächste Selbstmördergeneration werden. Die kommen mit radikalen Menschen zusammen, die ihnen dann erzählen werden, dass sie einen Märtyrerstatus bekommen, wenn sie sich und viele andere Menschen in die Luft sprengen. Und dieses darf die Menschheit nicht zulassen. Das dürfen wir bei den Vereinten Nationen nicht geschehen lassen. Wir müssen sie aus dieser Blockadesituation herausbringen. Wir müssen ihnen beibringen, dass sie den Israelis mit Respekt und Freundschaft begegnen müssen. Aber wir müssen auch den Israelis sagen: Sie können diese Menschen dort nicht in Geiselhaft nehmen. Die jungen Menschen, die Kinder, die dort geboren werden, die haben den größten Bevölkerungszuwachs auf der ganzen Welt. Seit 1999, habe ich diese Woche gelesen, hat sich die Bevölkerung im Gaza-Streifen verdoppelt. Das ist unvorstellbar. Und diesen Menschen müssen wir eine Zukunft geben. Wenn wir denen die Zukunft verweigern, wenn wir niemanden reinlassen und rauslassen und wenn wir auch sagen, wir kontrollieren jeden Lkw und heute lassen wir mal Betten rein und vielleicht morgen Spaghettis, aber Spaghettis gibt's nicht jeden Tag – und das ist die geübte Praxis, hab ich gesehen ... Ich habe auch gesehen, dass an der Grenze steht "geöffnet werktags von 8 bis 16 Uhr, freitags von 8 bis 12 Uhr". Das steht, wenn Sie in Erez über den Grenzübergang gehen, steht das da dran.

Und ich weiß von vielen Lebensmittelladungen, die vergammelt sind an der Grenzstelle und wieder zurück gefahren worden sind. Und wenn irgendjemand sagt, dass es ohne Problem möglich gewesen wäre, diese 100 Fertighäuser und die 500 Rollstühle ins Land zu bringen, der muss wissen, dass er die Unwahrheit sagt, weil die Israelis entscheiden, ob sie Fertighäuser reinlassen oder ob sie Rollstühle reinlassen. Und diese Demütigung der Menschen in Gaza, egal, welche Verbrechen auch möglicherweise wöchentlich passieren, mit Raketenangriffen auf israelische Gebiete, die ich auf das Schärfste verurteile, aber so kann es nicht weitergehen, dass sich die Menschen voller Hass gegenseitig umbringen. Ich habe das als furchtbar empfunden, als ich die Bilder gesehen habe von den Schiffen, die da so brutal – gegen jegliches internationales Recht, gegen jegliches internationales Recht! – gekapert worden sind und dabei Menschen ums Leben gekommen sind, die keine radikalen Terroristen waren. Das tut mir unglaublich weh, aber ich lasse mich nicht davon abbringen, ich versuche Menschen aus Israel, aus den Palästinensergebieten zusammenzubringen auf dem Sportfeld, als Freunde, die sich gegenseitig respektieren sollen und nicht abgrundtief hassen sollen. Es gibt keine andere Chance. Wenn man sich weiter gegenseitig umbringt, wird das weiter eskalieren. Dann gibt's irgendwann wieder eine Bombenexplosion und die ganze Welt fragt sich, wie konnte das angehen.

Unsere Regierung ist noch ganz zurückhaltend im Umgang mit den Geschehnissen und fordert gerade mal Aufklärung. Ich fordere auch Aufklärung, aber ich fordere auch eine Verurteilung. Das kann nicht angehen, dass gegen jedes Recht weiter Siedlungen gebaut werden im Westjordanland, gegen jedes internationale Recht! Obwohl Barack Obama in seiner großartigen Rede in Kairo genau das Gegenteil gepredigt hat. Es wird weiter gebaut und die Palästinenser, die ich dort besucht habe, leiden wie Hund da drunter, weil ihnen das Land geraubt wird, auf dem sie seit Jahrhunderten leben. Und das ist ein Unrecht. Und Unrecht führt nicht zum Frieden. Das müssen alle wissen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lemke, wir danken Ihnen für das Gespräch.