Solidarische Landwirtschaft

Der wahre Wert der Möhre

Auch Möhren mögen's kuschelig: Gleich zwei Karotten-Pärchen, die sich eng umschlungen halten, hat die neunjährige Annika bei der Möhrenernte in Omas Garten gefunden (Foto vom 27.10.1999).
Selbst geerntete Möhren sehen anders aus als die genormten Supermarkt-Karotten © picture-alliance / dpa / Erwin Elsner
Von Andreas Baum · 22.05.2017
Vor acht Jahren gab es in ganz Deutschland nur zwei solidarische Landwirtschaftsbetriebe, heute sind es mehr als hundert. Grundgedanke ist, Lebensmittel in Gemeinschaft zu produzieren. Das heißt auch: harte Arbeit auf dem Feld. Ein Beispiel aus Berlin-Gatow.
"Ja, man nimmt die Pflanze, gibt ihr diese Dämme und in die pflanzt man die ein und dann gibt’s diese Schnüre, da muss man die Pflanzen dann vorsichtig festbinden, damit die dann auch hochwachsen. Und es ist ziemlich warm hier drin."
Draußen dagegen: Temperaturen kaum über fünf Grad – es ist eines der kältesten Frühjahre, die es je gab. Für die, die hier im Schutz der weißen Plastikplanen auf den Knien rutschen und Setzlinge in die Erde stecken, kein Problem.
"Ich bin Leonie Umbach und pflanze Paprikas ein und danach gleich noch Chillis hier im Gewächshaus."
Heute, am Samstag, sind die Teilnehmer da. Sie arbeiten mit, ähnlich wie Saisonarbeiter: Nur dass ihnen die Ernte schon zur Zeit der Aussaat gehört. Sie haben sie mit ihrem Beitrag gekauft.
"Beim Paprika-Pflanzen muss man erst mal das Gewebeband, was jetzt keine Plastikfolie ist, wie beim Spargel, sondern ein mehrjährig verwendbares Gewebeband, das muss man erstmal ein bisschen einschneiden, dann wird die Paprika da reingepflanzt, und das hat halt den Vorteil, dass a) das Unkraut nicht hochkommt, und dass die Feuchtigkeit gehalten wird und dann wächst das Ganze viel schneller und besser."
Mit einem kurzen Messer schneidet Leonie Umbach ein Loch in die Folie ...
"So, die stopf ich dann jetzt da rein. In das Loch, das ich vorher da drin gebuddelt hab. Zack. Und dann steht die da und in ein paar Wochen ist die dann bei mir in der Gemüsekiste."
Die Kiste: Sie kommt viermal im Monat ins Haus. Mit dem, was die Teilnehmer der solidarischen Landwirtschaft Speisegut selbst gepflanzt, gegossen, gejätet und am Ende geerntet haben. Hier in Gatow, einem Dorf im Berliner Stadtgebiet, jenseits von Havel und Wannsee, bestimmten die Felder und das Gewächshaus des gemeinschaftlich betriebenen Hofes das Ortsbild.
"Wie die meisten hier sind wir Teil dieser solidarischen Landwirtschaft Speisegut."

Landwirtschaft kann auch romantisch sein

Insbesondere, wenn die Teilnehmer gebeugt an ihren Beeten stehen, erinnert das Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert, als Landwirtschaft noch ein romantisches Bild abgab.
"Das ist ja so organisiert, dass wir in den Depots in der Stadt unser Gemüse einmal die Woche abholen, aber eben auch hier mithelfen, mitmachen, mitentscheiden auch. Genau ..."
Solidarische Landwirtschaft: Für die Teilnehmer am Speisegut in Gatow bedeutet das: 70 Euro im Monat kostet das Recht an der Gemüsekiste – damit verbunden ist die Pflicht mitzuhelfen, an mindestens drei Tagen im Jahr – angeleitet von Christian Heymann, dem Initiator des Projekts. Er ist professioneller Landwirt. Viele kommen öfter, als sie müssen – wie Leonie Umbach.
"Je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr kriegt man einfach auch mit, was eben alles nicht läuft, auch bei den großen Biosupermärkten. Und hier weiß ich eben, wo das Gemüse herkommt, wen ich unterstütze und was ich umgehen kann."
Denn den Preis für ganzjährig billiges Gemüse in unseren Supermärkten zahlen andere: Auf den Plantagen Südspaniens, einem gigantischen Plastikmeer, das vom Weltraum aus zu sehen ist, werden Immigranten radikal ausgebeutet, für 20 Euro am Tag oder weniger.
"Also ich hab jetzt die Pflanzkörbe von draußen reingebracht, damit die Maus nicht wieder rangeht. Weil da war ne Maus und die hat sich die Samen rausgeholt."

Die meisten Hobbybauern haben Schreibtischjobs

Mungo Yang ist Sozialwissenschaftler. Während er die Schubkarre auf engen Wegen vom Feld ins Gewächshaus balanciert, spielt sein kleiner Sohn in einer Pfütze. Auch Mungo Yangs Mutter ist dabei, um auf den Enkel aufzupassen. Wissenschaftler, Theaterleute, Architekten, Tourismusmanager, Sozialarbeiterinnen - die meisten hier haben Schreibtischjobs.
"Also ich bin seit einem Jahr dabei, jetzt hier zum dritten Mal im Arbeitseinsatz. Ich find das total unterstützenswert, dass man hier auch sieht, wo die Ernte her kommt, dass es einfach regional ist. Näher an zu Hause kann es jetzt nicht sein."
Selbst für den, der in Berlins Innenstadt lebt: Mehr als 20 Kilometer von der Wohnung bis zur Lauchernte sind es selten. Kaum ein Produkt, das sich regional nennt, kann das bieten. Solidarische Landwirtschaft bedeutet aber auch: All dies in Gemeinschaft tun.
"Wir sind auch ne ganz nette Gruppe. Nachher wird ne kleine Pause gemacht. Also es macht einfach Spaß."
"Das macht irgendwie den Kopf frei, Und die Gemeinschaft ist auch nett. Also man lernt immer nette Leute kennen. Denen es auch Spaß macht."

Gemeinschaftssinn ist wichtig

Gemeinschaftssinn ist den Teilnehmern wichtig: Nach der Kartoffelernte wird ein Fest gefeiert, man isst zusammen, verabredet und hilft sich: Durch die solidarische Landwirtschaft entstehen Netzwerke in der ganzen Stadt, die weit über die Feldarbeit hinaus gehen.
Gemeinsam statt einsam: Bei der solidarischen Landwirtschaft wird zusammen im Gewächshaus geackert
Gemeinsam statt einsam: Bei der solidarischen Landwirtschaft wird zusammen im Gewächshaus geackert© Deutschlandradio / Andreas Baum
Der Mann, der das Projekt ins Leben gerufen hat, ist Christian Heymann. An bestimmten Wochentagen ist er in dem kleinen Laden an der Dorfstraße anzutreffen. Es regnet. Heymann ist Landwirt seit 20 Jahren, Initiator von Speisegut und Lebensmittelhändler in Personalunion.
"Unser kleiner Regionalladen. Gibt’s jetzt hier drei Jahre. Die Idee ist hier gar nicht, 100 % Bio zu verkaufen. Sondern wirklich die regionalen Sachen. Aber wenn man sich umguckt, wird man sehen, dass wir hier, ich würd sagen zu 99.9 % tatsächlich Biosachen haben. Das ergibt sich einfach."
Obst- und Gemüsesäfte, Honig, eigener und solcher anderer Imker, kleine Manufakturprodukte, Marmeladen, Sirup. Bis zur Decke stapelt sich in Kisten das Gemüse: Kartoffeln, Kohl und Lauch von den eigenen Feldern. Aber nicht nur das.
"Da hab ich eben Alkohol gesehen!"
"Ja. Das ist Berliner Brandstifter. Das ist wirklich ein feines Getränk."
Gin, Wodka und Korn, versetzt mit Blütenextrakten und Kräutern, biologisch. Man kennt die Schnäpse, sagt Heymann, in den guten Bars von Kreuzberg bis New York.
"Wurst gibt’s natürlich auch. Vom Wildschwein, das hier im Dorf läuft."
"Das heißt, das Schwein wird hier im Dorf erlegt?"
"Genau. Es wird hier in den Rieselfeldern beziehungsweise auf unseren Flächen erlegt. Und wir verarbeiten das dann zum Teil, in Leberwurst oder Mettwurst, genau."

Nachts pirscht ein Jäger über den Acker

Schwer zu glauben, aber wahr: Nachts pirscht ein Jäger über Heymanns solidarisch betriebene Flächen und schießt. Aber auch die Lämmer der hiesigen Schafherde landen, schonend gepökelt oder im Rauch gereift, in Wurstpellen und Gläsern im Geschäft. Milch zapft sich, wer seine Kanne mitbringt, selbst.
"Jeder, der ein Startup gründet oder macht, weiß nie, ob es funktioniert oder nicht. Natürlich: Essen muss jeder. Das Bewusstsein nach gutem Essen wächst. Mit einem Konzept zu kommen, das noch nicht wahnsinnig weit verbreitet ist, ist es ganz klar, dass man Erfolg haben kann. Bei Lebensmitteln ist das sehr sichtbar. Nur dass wir ein Naturprodukt haben. Es ist die dreckige Kartoffel, nicht die dreckige, die erdige Kartoffel, Es ist die Möhre, die noch krumm ist, die ich nicht im Supermarkt finde oder die Tomate, die eine Nase hat. Damit muss der Verbraucher sich auseinandersetzen, der Kunde, der Teilnehmer, wie wir sie nennen."
Der Laden läuft, weil es Stammkunden gibt, die Brot, Eier und Salat kaufen, auch im Winter. Heymann legt Wert darauf, dass all dies ohne Subventionen funktioniert – auch dies ein Grundprinzip der solidarischen Landwirtschaft.
"Den wahren Wert der Möhre kann ich nur darstellen, indem ich nicht staatliche Unterstützung erhalte, jetzt sind wir im 5. Jahr und ich hoffe, dass es noch viele weitere Jahre so weiter geht."
Noch gehen die Gatower lieber in den ortseigenen Discounter, direkt nebenan. Hier kostet ein Radieschenbund 70 Cent, im Regionalladen mehr als das Doppelte. Frisch vom Feld zwar, aber die meisten Anwohner honorieren das nicht. Speisegut ist von seinen Teilnehmern abhängig.
"Die Idee der solidarischen Landwirtschaft ist, dass man sich verpflichtet, ein Jahr die Ernte des Bauern abzunehmen."

Der Bauer bekommt eine Abnahm-Garantie

Es gibt fast so viele Konzepte solidarischer Landwirtschaft, wie Höfe, die sie betreiben, in Deutschland mehr als hundert. Manche Teilnehmer gewähren ihren Betrieben Kredite und machen sie unabhängig den Banken. Alle aber geben dem Bauer die Garantie, ihm die so Ernte abzunehmen, wie sie ist – zu einem vorher vereinbarten Preis.
In welchem Maß sie auf dem Feld mithelfen müssen, entscheidet der Landwirt, der als Fachmann die professionellen Entscheidungen trifft. Christian Heyman ist das besondere Verhältnis seiner Teilnehmer zum Gemüse wichtig, von dem sie sagen können: Das habe ich unter sengender Sonne geerntet. Oder – wie heute – im Regen.
"Naja, heute. Wir haben im Jahr glücklicherweise selten solche Tage. Wenn es halt so regnerisch ist, dann muss man sich im Gewächshaus beschäftigen. Entweder man muss es aufräumen oder die Tomaten entgeizen. Da werden die Tomatentriebe ausgebrochen, damit die Pflanze mehr Kraft hat und nach oben wachsen kann."
Am Samstag darauf, wenn die Teilnehmer kommen, scheint die Sonne, Schönwetterwolken am blauen Himmel: Kaiserwetter.
"Das ist ein Kuhtor, dass die das mit der Zunge nicht aufkriegen."
"Eigentlich ist der Kopf ganz frei. Das ist gut. Ich hab bisher gar nichts gedacht, ganz ehrlich ..."
Nicole ist Tänzerin. Auf Heymanns zweitem Feld im Ort, genauso gut mit dem Bus zu erreichen, wird heute Rote Bete ausgesetzt und eingepflanzt – in langen Reihen.
"Wenn man das sieht, wie viel man schafft, also das ist schon schön. Man ist schon stolz, wenn man das sieht. Die Arbeit."
"Guten Tag! Ihre Hände sind ganz schmutzig. Was haben Sie gemacht?"
"Ja, ich hab eigentlich Handschuhe dabei. Aber meine Tochter, die hat meine Handschuhe geklaut. Dann mach ich das von Hand. Find ich auch eigentlich schön so."

Stadtkinder lernen, wo ihr Essen herkommt

Das ist ein weiteres, gutes Argument für die solidarische Landwirtschaft. Stadtkinder lernen und begreifen, wo ihr Essen herkommt.
"Kartoffel ausbuddeln, das macht denen Spaß. Und die Johannisbeeren abpflücken. Aber sonst sind die eher, wundern sich halt, das was wächst, aber jetzt so begeistert dabei, bei der Gartenarbeit, noch nicht, aber das kann ja noch kommen."
Und am Ende kann die solidarische Landwirtschaft von Gatow auf ihre Teilnehmer sogar heilsam wirken.
"Ich arbeite im IT-Sektor, also die ganze Zeit am Schreibtisch und das ist halt eine ganz schöne Alternative. Und ich sage immer: so ne Stunde auf dem Feld, eine Stunde Gartenarbeit ersetzt eine Stunde beim Therapeuten. Ich hab keinen Therapeuten, aber die Erde hier ist, sozusagen… Da werden die Therapeuten arbeitslos. Wenn‘s alle machen würden, vielleicht schon."
"Dann wünsch ich viel Glück, weiterhin."
"Dankeschön."
"Viel Erfolg. Und viel Spaß."
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