"Sohn vom Kohl"

10.02.2011
Wer in Walter Kohls Buch nach Vatermord, einem privaten Sprengsatz am politischen Denkmal oder familiären Indiskretionen sucht, der sollte es gar nicht erst zur Hand nehmen. Doch bietet es jede Menge Überraschendes. Kohl schreibt ohne kokettes Selbstmitleid, selbstkritisch, oft selbstironisch.
"Ich wage die Behauptung", schreibt Walter Kohl gegen Ende, "dass es keinen markanten Unterschied zwischen dem Politiker und dem Privatmenschen Helmut Kohl gibt". Aber wer in seinem Buch nach Vatermord, einem diesmal privaten Sprengsatz am politischen Denkmal oder familiären Indiskretionen sucht, der sollte es gar nicht erst zur Hand nehmen. Über Helmut und Hannelore Kohl steht nichts Überraschendes drin.

Es geht in "Leben oder gelebt werden" auch weder um den Kanzler noch um die Familienmanagerin. Es geht allerdings um Sippenhaft. Es geht vor allem um Walter Kohl, um seine Schritte raus aus dem "Opferland", wie er es nennt. Zu dieser ungewollten Heimat gehört der falsche Name, der ihm mit sechs Jahren von Klassenkameraden eingeprügelt wird und für Sippenhaft steht: "Sohn vom Kohl". Walter gibt's nicht. Außer in kurzen Phasen, wenn er es mal wieder schafft, "anonym" zu werden. Aber das wird immer schwieriger, je höher der Vater aufsteigt und je massiver die Terrorismus-Angst wird. Auch die "Strafen" bei Enttarnung werden immer härter. Erst sehr viel später merkt er, wie tatkräftig er sich selbst in Opferland eingenistet hat, willfährig gegen den eigenen Willen, beherrscht vom Gefühlsgebräu aus "frustrierter Resignation, Beklommenheit und Peinlichkeit", unfähig zu lieben und geliebt zu werden.

Walter Kohls Buch bietet dennoch jede Menge Überraschendes. Er schreibt ohne kokettes Selbstmitleid, sondern glasklar, selbstkritisch, oft selbstironisch. Er entfaltet eine geradezu weibliche Sensibilität für feinste psychische Dynamiken, er scheint schon als Kind ein hochauflösendes Sensorium für beredte Details zu haben. Leben unter medialer Dauerbeobachtung, Alltag mit Personenschutz und was all das mit einem Kind macht - so bös-genaue Einblicke sind kaum sonst irgendwo zu lesen.

Es ist so peinlich, immer mit zwei Herren zur Schule gehen zu müssen. Also entwischt er auf dem Weg. Mit zwölf, schon im gepanzerten Fahrzeug, baut er die Maschinenpistole auf der Rückbank auseinander und wieder zusammen, unbemerkt. Tischlern lernen er und sein jüngerer Bruder Peter beim Turmbau im eigenen Garten von einem netten P-Schützer. Aber das Zuhause ist mittlerweile eine Festung, die meisten der allgegenwärtigen Polizisten doch eher stieselig, und das Gespräch mit dem Herrn, der ihm erklärt, mehr als fünf Millionen D-Mark sei er nicht wert, ist markerschütternd.

Nicht nur wegen des Preisschildes, das plötzlich an ihm hängt, sondern weil eine eventuelle Entführung natürlich wieder nur den "Sohn vom Kohl" meint. Also lernt er Codewörter mit der Mutter und beißt die Zähne zusammen. Wie später, als ihn ein sadistischer Bundeswehroffizier zwei "Ehrenrunden für den Bundeskanzler" mit 25 Kilo Sturmgepäck über den 700-Meter-Parcours rennen lässt. Dem kotzt er vor die Füße, aber er zeigt ihn nicht an. Er sieht im Geist die Schlagzeilen: "Kanzlersohn ist zu fein für die Ausbildung."

Es braucht noch ein paar Krisen - den Freitod der Mutter, das Zerbrechen der eigenen Ehe, den Bruch mit dem Vater, eigene Selbstmordpläne - bis er aufhört, als "Sohn vom Kohl" gelebt zu werden. Er nimmt sie an und erobert so endlich sein eigenes Leben, mit seinem Sohn und seiner neuen Liebe. Es ist die Offenheit sich selbst gegenüber, die seine Erzählung so anrührend macht, und so klug.

Besprochen von Pieke Biermann

Walter Kohl: Leben oder gelebt werden. Schritte auf dem Weg zur Versöhnung
Integral Verlag, München 2011,
274 Seiten, 18,99 Euro