"Sogar Selbstmordgedanken" durch rassistische Ausgrenzung

Meryam Schouler-Ocak im Gespräch mit Dieter Kassel · 08.02.2012
Depressionen, Zwangserkrankungen, Suchterkrankungen und andere gesundheitliche Beschwerden sind mögliche Folgen für Opfer von rassistischer Diskriminierung, sagt Meryam Schouler-Ocak, Oberärztin der Psychiatrie der Charité in Berlin.
Dieter Kassel: "Psychologische Auswirkungen rassistischer und diskriminierender Gewalt auf Migranten" – so lautet der Titel einer Veranstaltung heute Abend in Berlin an der Charité. Natürlich haben die Morde der neonazistischen Zelle aus Zwickau auch eine Rolle gespielt bei der Entstehung dieser Veranstaltung, aber sie sind bestenfalls – wie ich vorhin schon erwähnt habe – der Anlass. Es gibt genügend andere Gründe, um vor allen Dingen über alltägliche, vermeintlich harmlose, vielleicht manchmal auch nur verbale, manchmal aber auch körperliche Gewalt und was für Folgen diese hat, zu sprechen. Das wird heute Abend geschehen mit verschiedenen Teilnehmern. Den eröffnenden Vortrag bei dieser Veranstaltung wird Meryam Schouler-Ocak halten, sie ist die leitende Oberärztin der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité in Berlin am Sankt-Hedwigs-Krankenhaus, und sie ist jetzt zu uns ins Studio gekommen. Schönen guten Tag an Sie!

Meryam Schouler-Ocak: Ja, guten Tag!

Kassel: Ich glaube, jeder kann sich vorstellen, dass es psychologische Auswirkungen hat, wenn ein Mensch selber Opfer einer Gewalttat wird, in diesem Fall also ein Mensch mit Migrationshintergrund, Opfer einer rassistischen Gewalttat – aber welche Auswirkungen hat die Tatsache, dass es diese Taten gibt und dass darüber berichtet wird, auch auf Menschen, die noch keine persönlichen Erfahrungen damit haben?

Schouler-Ocak: Zunächst einmal erschreckend, man ist erschrocken, dass überhaupt so was passiert. Man rechnet damit nicht, auch wenn man persönlich in dem Moment nicht betroffen ist. Man ist betroffen, das Vertrauen wird erschüttert, die Zuversicht kann dadurch auch in Mitleidenschaft gezogen werden. Man kriegt Ängste, man schaut um sich und überlegt: Werde ich vielleicht das nächste Mal auch dran sein?

Das heißt also, man ist zwar nicht unmittelbar betroffen, aber man ist schon betroffen, weil man ja zu einer – oder frau zu einer Minderheit vielleicht dazugehört und demnächst vielleicht eben ähnliche Erfahrungen sammeln muss.

Kassel: Was mich ein bisschen erschreckt hat und auch sehr nachdenklich gemacht hat, das schon in ihrem Flyer, einem ziemlich kurzen Heftchen, das ein bisschen erklärt, was das heute Abend soll und wer kommt, schon erklärt wird, Sie seien in der Charité auch auf die Idee gekommen, eine solche Veranstaltung zu machen aufgrund von persönlichen Erfahrungen, von Patientinnen und Patienten, aber auch Kolleginnen und Kollegen. Was für Erfahrungen sind denn das?

Schouler-Ocak: Teilweise habe ich mit Kolleginnen und Kollegen gesprochen, die selber während beispielsweise ihres Studiums entsprechend diskriminierenden Äußerungen oder auch Ausschließungen ausgesetzt waren, beispielsweise die Geschichte einer Kollegin, die Sozialpädagogik studiert hat, die an ihrer Uni systematisch von ihrem Dozenten quasi diskriminiert wurde und immer wieder, und kein Einziger der Teilnehmer, der anderen Studierenden hat sich irgendwie dagegen geäußert, und man hat sie letztendlich alleine da stehen lassen. Und sie ist aufgrund dieser ganzen Maßnahmen soweit krank geworden, dass sie ein Semester Krankheitssemester machen musste.

Das ist ein Beispiel, ein anderes Beispiel ist, dass ein Kollege berichtet hat, dass er halt von bestimmten Patienten nicht als Arzt quasi akzeptiert wurde und erst nach Gesprächen das möglich war. Ich persönlich habe in meiner Karriere eine einzige Erfahrung sammeln dürfen, und zwar war ein Patient da, der mir gesagt hat, Sie haben einen komischen Namen, na ja, sie sehen auch so komisch aus, ich möchte mit Ihnen nicht arbeiten, also ich möchte nicht bei Ihnen behandelt werden. Ich bin auf diesen Patienten zugegangen, habe mit dem in aller Ruhe gesprochen, habe mich vorgestellt et cetera, und plötzlich sagte er, wow, Sie sind ja eine sehr nette Ärztin, und das hat sich dann ins Positive umgekehrt. Also ich persönlich habe diese negativen Erfahrungen nicht sammeln müssen.

Patienten berichten von Beschimpfungen, von auch tätlichen Übergriffen, oder aber auch von Beschimpfungen ihrer Kinder oder auch Gewalt gegen ihre Kinder oder auch gegen ihre Verwandten, also verwandtschaftlichen Betroffenen.

Kassel: Sie haben gerade bei diesem Beispiel Ihrer Kollegin, die während des Studiums diese Erfahrung gemacht hat, gesagt, dass diese verbale Gewalt von einer Person konkret in diesem Einzelfall ausging, aber die anderen haben zugesehen, haben auch nichts gesagt. Welche Rolle spielt das auch bei den psychologischen Wirkungen?

Schouler-Ocak: Eine riesengroße Rolle, und zwar diese soziale Isolierung, diese Ausschließung, das ist das, was ja die Betroffenen sehr – ich sage mal – tatsächlich betrifft, verletzt, kränkt, dass kein anderer zu ihnen steht, dass keine Solidarität da ist, dass keine soziale Unterstützung, Support quasi da ist, und man nicht neben ihr steht und sagt, halt, stopp, so geht das nicht, also quasi auch Partei für sie ergreift und für sie da ist.

Kassel: Sie haben gesagt, das hat in diesem Fall, und sicherlich auch in anderen, auch tatsächlich am Ende nicht nur zu psychischen, sondern dadurch dann auch zu körperlichen Erkrankungen geführt. Das heißt, wir reden jetzt nicht von – was vielleicht einer, der das hört, sagt: Die sollen sich mal nicht so anstellen. Gut, man freut sich nicht über so was, wir reden wirklich von schlimmen psychologischen Folgen.

Schouler-Ocak: Ja, es kommt auch auf die Betroffenen an, was für Schutzmaßnahmen, Copingstrategien sie natürlich für sich in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrer Persönlichkeit haben, aber es kommt tatsächlich vor, dass wenn chronische Ausschließung – chronischer Stress ist das ja letztendlich –, es tatsächlich zu biologisch-organisch nachweisbaren Schäden in Hirnstrukturen führen kann. Das heißt also, es macht tatsächlich was mit einem, und teilweise auch nachhaltig und längerfristig.

Kassel: Natürlich wäre die ideale Gegenmaßnahme, diesen Rassismus zu vernichten – das können Sie nicht in Ihrem Job, ich auch nicht. Was können Sie denn tun, wie kann man solchen Menschen helfen?

Schouler-Ocak: Zum einen die Betroffenen – also vielleicht noch mal ganz kurz zu den Beschwerden oder zu den psychischen Folgen, die da auftreten können: Natürlich können Depressionen dann entstehen, Zwangserkrankungen, Suchterkrankungen, körperliche Beschwerden, wir reden von somatoformen Störungen, es können natürlich auch, wenn es schwerwiegendere Dinge sind, posttraumatische Belastungsstörungen entstehen, es können Essstörungen und viele andere Dinge entstehen, oder auftreten – bis hin sogar selbstverletzendes Verhalten, sogar Selbstmordgedanken und so weiter können also entstehen.

Für diejenigen, die das tatsächlich ausüben, also diskriminierend oder rassistisch werden, letztendlich sind das ja in der Regel Leute, die vielleicht die entsprechenden Hintergrundinformationen nicht wissen, also ein Feindbild sich schaffen und gegen diese Feindbilder – also die anderen sind schuld – und dort halt sich auch überlegen fühlen können und dadurch halt diese Äußerungen oder diese Taten begehen, sich dadurch vielleicht besser fühlen et cetera. Ich denke, da muss Information und noch mal Information und Aufklärung et cetera die Folge sein.

Kassel: Trotzdem noch mal die Frage: Sie haben jetzt verschiedene psychische Erkrankungen beschrieben, die die Folge solcher Erfahrungen sein können. Die können Sie natürlich jeweils symptomatisch behandeln – Suchterkrankungen ähnlich wie bei jedem anderen, der aus anderen Gründen eine Suchterkrankung hat –, aber kann man darüber hinaus speziell etwas tun in diesen Fällen?

Schouler-Ocak: Das Allerwichtigste ist tatsächlich soziale Unterstützung, Solidarisierung, die Betroffenen müssen das Gefühl bekommen, ich bin nicht hilflos, ich bin nicht ausgeliefert, ich bin nicht ohnmächtig, ich kann was tun, ich kriege Unterstützung, das ist das Beste, denn wenn diese Konstellation gegeben ist, bilden sich die Störungen entsprechend eben nicht aus, oder sie sind eben milder in Ausprägung. Sie müssen ja auch bedenken, dass die Betroffenen dann eine massiv eingeschränkte Lebensqualität haben, dass sie die Chancengleichheit nicht mehr wahrnehmen können.

Sie müssen auch bedenken, dass für die Gesellschaft eine Menge Kompetenzen und eine Menge Fähigkeiten einfach verloren gehen, Türen zugeschmissen werden. Letztendlich muss man die Betroffenen wieder zurückgewinnen und sie darin unterstützen, in die Gesellschaft wieder sich integrieren zu können und partizipieren zu können. Das kann man durchaus durch psychotherapeutische Interventionen – in einigen Situationen, wenn eine psychische Erkrankung vorliegt, durchaus auch mit medikamentösen Maßnahmen, aber auch vor allen Dingen mit durch Psychoedukation, also Aufklärung, Informationsvermittlung und natürlich durch Unterstützung.

Kassel: Aber wie viel erreichen Sie wirklich? ich könnte mir vorstellen, dass viele, auch gerade Männer, auch nicht so leicht bereit sind, zuzugeben, dass sie psychische Probleme haben aus solchen Gründen.

Schouler-Ocak: In der Tat kann das durchaus sein, dass Betroffene, die entsprechenden – ich sage mal – Beschimpfungen oder Angriffen ausgeliefert waren, sich vielleicht auch schämen, es ist ihnen peinlich, unangenehm, öffentlich darüber zu reden oder zu sagen, mir ist das auch passiert. Deswegen wird möglicherweise drüber geschwiegen, es wird gar nicht mitgeteilt, und wenn Beschwerden entstehen, möglicherweise sucht man woanders die Gründe, aber nicht in den eigentlichen Ursachen. Das heißt also, auf beiden Seiten ist da ganz massiv Informationsvermittlung erforderlich. Das heißt, die Betroffenen, die so was erleben müssen, sind auch aufgefordert, darüber zu berichten.

Kassel: Kann man eigentlich präventiv etwas tun? Ich denke da zurück an Ihr eigenes Beispiel, was Sie gerade vorhin erzählt haben, dass ein Patient auf Sie zukam, mit – ich sage es mal ganz vorsichtig – großem Misstrauen, und Sie haben den dann eines Besseren überzeugt. Dazu muss man ein bestimmter Menschentyp sein, auch bestimmte Erfahrungen gemacht haben. Kann man das verstärken, vielleicht schon sogar in der Schule, ganz früh?

Schouler-Ocak: Ja, das ist ein sehr guter Vorschlag, auf jeden Fall, oft ist das ja so, dass ich über den, der beschimpft wird, oder der diskriminiert wird, überhaupt ganz wenig Informationen habe, bislang kaum Berührungspunkte hatte, also ich persönlich wenig mit ihm zu tun hatte und da gar keine, ich sage mal, positiven Gefühle entwickeln konnte. Das heißt, Kontakt aufnehmen, Informationsvermittlung, gemeinsame Aktivitäten, gerade auch in der Kita oder in der Schule ist die beste Gelegenheit, da tatsächlich diesen Kontakt aufzubauen. Und da haben natürlich Lehrer oder Kindergärtnerinnen oder Erzieherinnen, vor allen Dingen Pädagogen, auch Politiker, eine sehr wichtige Vorbildfunktion, Vorreiterfunktion, die in großer Verantwortung stehen und auch diese Verantwortung ausüben müssen.

Kassel: Es sind ja auch Politiker dabei heute Abend bei der Veranstaltung. Aber lassen Sie uns vielleicht doch noch einmal auf dieses große Ganze gehen. Nehmen wir einmal diese schrecklichen Morde. Die sind in der Anfangsphase lange Zeit auch von der seriösen Presse auch als "Dönermorde" bezeichnet worden, völlig zu Recht das Unwort des Jahres dann auch. Das macht inzwischen auch niemand mehr. Aber diese Form der Berichterstattung, die vielleicht nicht unbedingt immer im Bewusstsein rassistisch gemeint ist – das will ich den Kollegen nicht unterstellen, die diesen Begriff benutzt haben –, hat auch so etwas die Folge, dass man dann denkt, die sogenannte Mehrheitsgesellschaft nimmt mich mit meinen Problemen da gar nicht ernst?

Schouler-Ocak: Dieser Begriff Döner impliziert ja irgendetwas, macht ja was mit mir, wenn ich das höre. Das ist letztendlich eine Stigmatisierung – ich will also nicht diskriminieren in dem Sinne, sondern eine Stigmatisierung –, und letztendlich auch durch diesem Begriff erfolgt ja auch eine Abwertung, eine vielleicht auch Mindereinschätzung. Das wäre so eine Interpretation, die ich da hineinlege. Und es ist gut, dass man von dieser Bezeichnung weggekommen ist, weil es in der Tat den Dingen, die da passiert sind, diesen schwerwiegenden Dingen, bei Weitem überhaupt nicht gerecht wird.

Kassel: In der Berliner Charité findet heute Abend eine Veranstaltung zu psychologischen Auswirkungen rassistischer und diskriminierender Gewalt auf Migranten statt. Den einleitenden Vortrag dazu hält Meryam Schouler-Ocak, leitende Oberärztin der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité am Berliner Sankt-Hedwigs-Krankenhaus. Das ist so bei Ärzten: Die haben immer ganz lange Titel. Aber ich danke Ihnen sehr, dass Sie heute die Zeit für uns hatten. Danke fürs Kommen!

Schouler-Ocak: Ich danke Ihnen auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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