Soda auf Melone

14.04.2011
Er ist ein Meister seines Genres: der Reporter Joseph Mitchell, der in den 30-er und 40er-Jahren für den "New Yorker" schrieb. Wie ein Chamäleon konnte er sich seiner Umgebung anpassen und seinen Gesprächspartnern fast alles entlocken.
Dass Amerika viele große Journalisten hervorgebracht hat, und gerade die Zeitschrift "New Yorker" seit Jahrzehnten die originellsten und elegantesten Autoren beschäftigt, weiß man hierzulande schon seit längerem. Von Dorothy Parker über Truman Capote und Tom Wolfe bis zu Jane Kramer und Malcolm Gladwell reicht die Liste derjenigen, die auch auf Deutsch gern gelesen werden. Nun aber gibt es einen "New Yorker"-Autor zu entdecken, der bislang nur Eingeweihten bekannt war, seinen berühmteren Kollegen aber an journalistischem Spürsinn und literarischer Gestaltungskraft in nichts nachsteht: Joseph Mitchell.

In seinen in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Reportagen erweist sich Mitchell vielmehr als stilbildend, als ein Meister seines Genres, und in gewisser Weise als Vorläufer des sogenannten New Journalism. Mitchell sagt "Ich" in seinen Texten, ist als Autor durchaus präsent. Dadurch gewinnen seine Artikel große Glaubwürdigkeit, durch die eigene Zeugenschaft und Anteilnahme geraten sie ihm auch immer überaus anschaulich.

Da wäre etwa sein "Nachruf auf eine Spelunke". Als guter Gast weiß Mitchell, wie es dort über Jahre zuging, bevor sie mit chromglänzenden Barhockern ausgestattet wurde und durch allerlei modernen Firlefanz ihr Gesicht verlor. Er weiß, wie Erdnussschalen unter den Schuhen knirschen, wie es ausgehen kann, wenn ein Gast, der immer wieder Brandy auf den Thesen kippt und anzündet - bis der Wirt dem "Feuerteufel" einen Soda-Syphon auf den Kopf knallt und ihm den Schädel gespalten hätte, "wenn er keine Melone getragen hätte". Er berichtet davon, wie gesungen und getanzt wurde, wie man auf den Tresen stieg, um Reden zu schwingen, oder wie einer der Gäste sich immer wieder einen Spaß daraus machte, die Salzstreuer in den Manteltaschen der anderen Gäste zu versenken.

Eine solche Reportage setzt intime Kenntnisse voraus. Und Mitchell schien sich einem Chamäleon gleich immer wieder seiner Umgebung anpassen zu können. Keiner, der nicht vertrauen zu ihm fasst und dem Reporter seine Geschichte erzählt. Manche der Reportagen kommen fast ohne Beschreibungen aus; Mitchell lässt seine Figuren einfach nur Erzählen.

Und in diesen mündlichen Berichten scheint nicht selten eine untergegangene Welt auf, eine Welt, in der es an den Straßenküchen Manhattans Schweineschnauze mit Kohl zu kaufen gibt, in der Köche unfassbar riesige Steaks braten, ohne dabei die Zigarre aus dem Mund zu nehmen und in der die Straßen der Stadt voll sind von Predigern, Verrückten und würdigen Bettlern. Es sind gerade diese Freaks und Außenseiter, es sind die Menschen mit ihren Schrullen, Macken, Ticks und fixen Ideen, die Mitchell besonders anziehen, die "Bartfrau" Lady Olga, der Mann, der einen Feldzug gegen das Fluchen führt und gerade deswegen das Interesse Mitchells weckt, weil er "der erste Biertrinker unter den Weltverbesserern war, die mir begegnet sind."

Joseph Mitchell muss selbst ein seltsamer Vogel gewesen sein, daher sein großes Einfühlungsvermögen für all die Sonderlinge, daher auch die Faszination, die seine von liebevoller Anteilnahme und von Witz durchwirkten Portraits im Leser hervorrufen. Schade, dass Mitchell das Schreiben in den fünfziger Jahren einstellte. So wird es bei dieser zum Glück umfangreichen und gut übersetzten Sammlung seiner "New Yorker Geschichten" bleiben.

Besprochen von Tobias Lehmkuhl

Joseph Mitchell: McSorley’s Wonderful Saloon. New Yorker Geschichten
Übersetzt von Sven Koch und Andrea Stumpf
Diaphanes Verlag, Berlin 2011
416 Seiten, 22,90 Euro