So wahnsinnig wie die Welt

07.03.2013
Als Stricher, Drogendealer oder später als Professor gaunert Joel Spazierer in Ungarn, Österreich und der DDR herum. Er ist ein brillanter Blender, dabei kein schlechter Kerl. Immer mal wieder begeht er - so zufällig wie gewissenlos - einen Mord. Der Leser schaut ihm atemlos zu und weiß bald selbst nicht mehr, was gut und was böse ist.
Wenn man den dickleibigen neuen Roman des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier zu Ende gelesen hat, ist man noch lange nicht fertig mit dem Buch. Sondern rätselt und staunt und liest immer wieder darin herum, um in den verschwenderischen Einfällen dieses Autors zu versinken. Die aberwitzigen Abenteuer seines Lebens, die uns Joel Spazierer so vergnügt wie intelligent und gebildet erzählt, sind gar zu fantastisch, um sie nicht mit lustvollem Schwindel weiter in sich tosen zu lassen.

Geboren in Budapest und aufgewachsen in Wien hat dieses charmante Monster, dessen Geist und Witz die Menschen betört und leimt, weltweit gegaunert, gedealt und gemordet. Ein abgründiger Mann mit vielen Talenten, Namen und Identitäten. Ein seidiger Teufel.

Als Kind gerät Joel, der damals noch ganz anders hieß, in die Fänge des ungarischen Geheimdienstes, folgt alsbald entzückt den österreichischen Liebesabenteuern seiner betrügerischen Großmutter und beginnt mit neun Jahren ein Stricherleben. Mit 16 erschießt er die Mutter eines Freundes und mordet immer mal wieder, wenn es gerade passt.

Er wird Automechaniker im Gefängnis, Drogendealer in Wien, Geschäftsmann in Turin und in der DDR gar Professor für wissenschaftlichen Atheismus an der Humboldt Universität in Berlin. Wo ihn die Honeckers eine Weile hofieren.

Ein Bandit, ein Blender, Verräter und Lügner. Ein brillanter Kopf. Ein amoralischer Zeitgenosse. Den Moral nicht interessiert. Oder nur als theoretisches Konzept. Der nie ein guter Mensch werden wollte. Obgleich er davon überzeugt ist, dass jeder von uns dazu da ist, für einen anderen Menschen zu sorgen. Was auch er - vergeblich - versucht. Ein so dämonisch verführerischer wie skrupelloser Mann. Der sich kümmert und sich verliebt, der mordet und manipuliert – und das so gefühl- wie gewissenlos tut, dass sich im Kopf des Lesers die Frage nach Gut und Böse zu einem unentwirrbaren Rätsel verknotet.

Schelmenroman nennt Michael Köhlmeier das, was er Joel Spazierer erzählen lässt. Weil ein Narr alles sagen darf? Alles lustig aufdecken darf, was in der schauerlichen Wirklichkeit geschieht?

Natürlich spiegelt sich die Welt in diesem Mann. In ihrer hochstaplerischen Bedenkenlosigkeit, ihrer mörderischen Profitgier, ihrer stupenden Verantwortungslosigkeit. Einmal hat ein Staatsanwalt über Joel Spazierer gesagt, dass er kein Mensch sei. Das hat ihn beschäftigt. Intellektuell, nicht ethisch natürlich.

Nur, was ist ein Mensch in unserer heutigen Zeit? Köhlmeier gibt keine Antwort. Er moralisiert nicht. Nirgends lesen wir pathetische Betroffenheit. Es gelingt ihm vielmehr mit eisiger Tollheit, aus den Fäden dieser deprimierenden Themen ein amüsantes Märchen zu weben.

Und das ist zugleich die Crux des Romans. Joel Spazierer ist weniger Mensch als literarisches Konstrukt. Er bleibt ungreifbar fern. Eine Schimäre, dessen Treiben man emotional unbeteiligt verfolgt. Aber vielleicht war genau das die Absicht des Michael Köhlmeier, damit wir ja nicht gefühlvoll vernebelt den Wahnsinn der Welt überlesen.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer
Hanser Verlag, München 2013
656 Seiten, 24,90 Euro