Slawische Mythologie der Polen

Zwischen Natur und Nationalismus

23:08 Minuten
Eine Gruppe von Menschen zieht mit einer Strohpuppe durch die Altstadt von Warschau.
Mit der Puppe Marzanna ziehen die Neopaganisten durch die Altstadt Warschaus. Marzanna ist eine Gestalt aus der slawischen Mythologie und symbolisiert den Winter. © Sebastian Meissner
Von Sebastian Meissner · 19.03.2018
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Das slawische Heidentum übt einen Reiz auf sie aus – Polen, die nach Spiritualität suchen und sie nicht wie die Mehrheit ihrer Landsleute im Katholizismus finden. Sie nennen sich Neopaganisten und versetzen das Land in Unruhe. Wer sind sie? Und wie rechtsradikal sind sie wirklich?
Die kleine Menschenmenge, die sich auf dem Hauptplatz in der Warschauer Altstadt versammelt hat, skandiert inbrünstig: "Tod, weiche von uns, wir zünden die Frühlingsfeuer an." Unweit der Gruppe stehen vier Polizeibeamte, die das Geschehen im Auge behalten. Fähnchen und eine Fahne mit Runen-ähnlichen Symbolen werden geschwungen.
Ein Mann hält eine selbstgebastelte Frauenpuppe an einem langen Stock hoch: langer Rock, oranges T-Shirt, auf dem ballrunden Kopf ein roter Mund und blaue Augen. Auf Polnisch heißt sie Marzanna, auf Deutsch wird sie Morena genannt – eine Gestalt aus der slawischen Mythologie, die den Winter, den Tod und die Nacht symbolisiert.
"Wir werfen die Puppe Marzanna in den Fluss, damit der Winter uns verlässt."
Zu Zeiten des Kommunismus, als die polnische Regierung keine besonders guten Beziehungen zur katholischen Kirche hatte, wurden volkstümliche Feste und Traditionen wie diese, die nicht eindeutig christlich waren, als Ausdruck polnischer Identität bevorzugt. Und ich selbst kann mich auch daran erinnern: Im Kindergarten haben wir solche Marzanna-Puppen gebastelt und im naheliegenden Fluss versenkt.

Katholizismus in Polen ist heidnisch

Ich bin in Polen geboren. Mit zwölf Jahren, einen Monat vor der Ausrufung des Kriegsrechts, floh meine Familie in die Bundesrepublik. Und heute huldigen junge Polen paganischen Gottheiten – in einem Land, das sich zu 99 Prozent katholisch anfühlt?!
Älterer Mann auf dem Marktplatz der Warschauer Altstadt, in eienr Gruppe jüngerer Polen
Szymon Kulinski fühlt sich schon seit seiner Kindheit als Heide. Heute trägt er den Titel eines neopaganistischen Hohepriesters. © Sebstian Meissner
Szymon Kulinski. Zotteliger Bart und ebenso zottelige graue Haare, um die ein roter Schal gewickelt ist. "Neopaganisten-Guru", so nennen ihn einige, erzählt er mir. Schon als Kind habe er sich als Heide gefühlt.
"Als der Katholizismus nach Polen kam, war er nicht imstande, alle vorchristlichen Religionen zu zerstören, und so verflüchtigte sich diese Religiosität in Bräuche und Riten. Der volkstümliche Katholizismus in Polen ist in Wahrheit heidnisch."
Der weit über 60-Jährige gehört zu den ältesten Mitgliedern der "Eingeborenen Kirche Polens", einer religiösen Vereinigung polnischer Neopaganisten, die sich 1995 registrieren ließ. Es sind überwiegend ihre Mitglieder, die hier erschienen sind. An sie gewandt hält Szymon jetzt eine festliche Rede.
"Wir sollten all bereit sein für den Frühling, denn der Wechsel der Jahreszeiten bedeutet Leben. Unsere Vorfahren, die Slawen, haben daran gedacht, und wie sie so werden auch wir jetzt an die Weichsel marschieren, wo wir die Marzanna im Fluss ertränken werden."

Von christlichen Missionaren zerstört

Die Mitglieder haben das heidnische Erbe Polens für sich entdeckt und identifizieren sich damit. Mit Hilfe von Geschichtsbüchern und archäologischen Erkenntnissen versuchen sie, eine Religion wiederauferstehen zu lassen, die vor Jahrhunderten christliche Missionare zerstört hatten.
Heute lassen sich in Polen zwei neopaganistische Strömungen ausmachen: Die eine propagiert einen naturverbundenen Polytheismus und bemüht sich, ein tolerantes und vor allem unpolitisches Gesicht zu zeigen. Die "Eingeborene Kirche Polens" ist eine davon. Zu der anderen gehören Vereinigungen wie "Niklot" und der "Eingeborene Glaube".
"Niklot ist in Wahrheit sehr rechts orientiert. Im Gegensatz zu ihnen vermischen wir Religion nicht mit Politik."
Menschengruppe steht mit einer Strohpuppe am Flussufer
Am Ufer der Weichsel übergießen die Umzugsteilnehmer die Marzanna-Puppe mit Brennöl, werfen sie dann in den Fluss und läuten damit den Frühlingsanfang ein. © Sebastian Meissner
Auch wenn Szymon über Niklots rechtsradikale Tendenzen gut informiert scheint, ganz so eindeutig will er sich nicht von dem Verein distanzieren.
"Die polnische Tageszeitung 'Gazeta Wyborcza' will Niklot eine neofaschistische Fratze verpassen. Aber das stimmt nicht. Ich besuche öfter die Vorträge von Niklot und einige von ihnen sind durchaus vernünftig. Ich bin ja schließlich auch ein Patriot."

Die Polen suchen nach Identität

Ein junger polnischer Fotojournalist gesellt sich zu mir und erzählt mir von Niklots neopaganistischen Festen. Im Internet sind Bilder durchgesickert, die ihre Mitglieder beim Posieren mit brennenden Hakenkreuzen und Hitlergruß zeigen.
"Die Polen suchen immer noch nach ihrer Identität. Über Jahrzehnte hat man sich mit dem Kampf gegen den Kommunismus identifiziert, und in den 1990er-Jahren stürzten sich dann alle auf den Kapitalismus und den Konsum."
Die Marzanna-Puppe wird mit brennbarem Öl übergossen, angezündet und in den grauen, langsam dahin treibenden Fluss geworfen. Danach teilen die Menschen miteinander Brot und essen bemalte, hartgekochte Eier, wie sie auch beim christlichen Osterfest in Polen gegessen werden.
Es sind ausschließlich Erwachsene anwesend. Komisch, denke ich mir, ich habe diesen Brauch vor allem als eine Kinderattraktion in Erinnerung.
"Den Katholizismus empfand ich niemals als überzeugend. Das war für mich eine unnatürliche, fremde Religion voller Widersprüche, und so machte ich mich auf die Suche nach etwas eigenem."
Ratomir Wilkowski ist Informatiker, doch bei der "Eingeborenen Kirche Polens" ist er ein slawischer Hohepriester. Er gestaltet und organisiert die Feste für die Gemeindemitglieder. Und erzählt mir, dass die "Eingeborene Kirche Polens" die größte und älteste Vereinigung von Neopaganisten in Polen ist. Die Vereinigung sieht sich als eine Bewegung von Eingeborenen, ähnlich derer der nordamerikanischen Indianer oder anderer Urbevölkerungen in Ländern, die durch die Europäer kolonialisiert wurden.
"Ich war schon immer sehr heimatverbunden. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, irgendwo anders als in Polen zu leben. Ich fühle, denke und spreche polnisch und bin eine Paganist, weil diese Gebiete schon immer dem slawischen Volk gehört haben."

Paganismus ist die Ur-Religion der Polen

Menschen wie er sehen den Paganismus als die Ur-Religion der Polen, die den Slawen quasi in die Wiege gelegt wurde.
"Unsere Traditionen sind die essentiellen Bestandteile unserer Identität. Denn wenn wir unsere Bräuche nicht wertschätzen, was bleibt dann schon von unserer Identität übrig?"
Ich frage Ratomir, wie sich der Alltag eines slawischen Heiden von dem eines Katholiken unterscheidet? In ihrer Haltung zum Land vielleicht?
"Es gibt den katholischen Nationalismus und den neopaganistischen. Katholischen Nationalismus halte ich für schizophren: Denn wenn dir das eigene Volk etwas bedeutet, wie kannst du dann auf die Oberherrschaft eines fremden Staates setzen – den der Vatikan darstellt?"
Menschen am Lagerfeuer essen Suppe
Bei einer Ochsenschwanzsuppe auf dem Privatgrundstück des Neopaganistischen Priesters Wilkowski findet die offizielle religiöse Zeremonie des Frühlingsanfangs statt. © Sebastian Meissner
Eine Woche später trifft sich die Gruppe zum Frühlingsfest wieder. In einer kleinen Ortschaft, rund eine Stunde von Warschau entfernt. Auf dem Privatgrundstück des slawischen Hohepriesters Ratomir wird gleich eine paganische Zeremonie abgehalten.
Ein Zelt mit einer so genannten slawischen Sauna wurde aufgebaut. Es wird Holz gehackt, über der Feuerstelle köchelt in einem gusseisernen Kessel Ochsenschwanzsuppe. Unweit des Lagerfeuers sitzt Konrad Lewandowski und bearbeitet mit seinem Riesendolch ein Stück Holz.
"Fünf Jahre lang habe ich mich als Kultur-Paganist bezeichnet."
Vergleichbar den Menschen, die sich der jüdischen oder christlichen Kultur verbunden fühlen, ohne gleichzeitig religiös zu sein. Konrad betrachtet die Riten der Neopaganisten zunächst als eine kulturelle Praxis.
"Vor zwei Jahren habe ich dann meine Beitrittserklärung in die 'Eingeborene Kirche Polens' unterzeichnet. Jetzt bezeichne ich den Neopaganismus als meinen Glauben und habe seither aufgehört, das Christentum zu praktizieren. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass der Monotheismus eine künstliche Religion ist, die nur Probleme wie Dogmatismus, Fanatismus und Kriege generiert. Beim neopaganistischen Polytheismus legst du dich mit keinem Gott an, denn du weißt ja nicht, ob er dir nicht noch nützlich sein könnte."
Der 51-jährige Lewandowski ist Autor von Krimis und Fantasy-Romanen, in denen er über Werkatzen und andere Fabelwesen schreibt. In einem Zeitungsinterview sagt Lewandowski:
"Ich bin überzeugt, dass wir den Christianisierungsprozess umkehren und den Polen ihre eigentlichen Götter zurückgeben müssen. Der Gott der Polen heißt nicht Jahwe, sondern Świętowit."
Und dieser ist die zentrale Figur der slawischen Pantheons.

Unklare Haltung gegenüber Nationalismus

Wie alle Neopaganisten der "Eingeborenen Kirche Polens", mit denen ich spreche, erklärt auch Konrad Lewandowski, sich gegenüber nationalistischen Bewegungen abzugrenzen. In einem Interview mit einer rechtsgerichteten Gazette sympathisiert er jedoch ganz offen mit dem als rechtsradikal und antisemitisch geltenden katholischen Priester Jacek Międlar.
Lewandowski gibt auch an, gerne bei Märschen mitzumachen, die zur polnischen Unabhängigkeit in Warschau stattfinden. Es gibt sie seit 2011 – und sie etablierten sich inzwischen zum zentralen Treffpunkt von Ultra-Nationalisten und Rechtsradikalen aus ganz Europa.
Immer mehr Gäste versammeln sich rund um das Lagerfeuer. Der Neopaganisten-Priester Ratomir geht in der Runde herum und sammelt für die Unkosten Geld – umgerechnet zehn Euro pro Person.
Eine junge Frau, etwa 25 Jahre alt, sitzt mit ihrem Ehemann am Lagerfeuer. Ich frage sie, wie sie mit der Bewegung in Berührung gekommen ist.
"Übers Internet. Das ist wirklich ein ganz tolles Medium, dort kann man so viele unterschiedliche Informationen finden, die man sonst nirgendwo finden könnte. Ich habe zuerst gedacht, dass das hier eine geschlossene Gesellschaft ist und wusste nicht, wie wir hier empfangen werden. Aber es ist wirklich toll hier. Und mir gefällt es sehr, dass hier nicht über Politik gesprochen wird."

Islamkritische Stimmen am Lagerfeuer

So ganz ohne Politik kommt man rund ums Lagerfeuer dann doch nicht aus. Hier und da höre ich einige "islamkritische" Stimmen – nach dem Motto: ja, ja, die Frauen haben es am schlimmsten im Islam.
"Wir sind hier zusammengekommen, weil wir dem gleichen Glauben angehören, die gleichen Götter verehren und die gleichen Werte teilen. Und wir wollen, dass diese Werte an die nächste Generation weitergegeben werden."
Doch welche Werte sind das?
Auch ein junger Wähler der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit PiS" ist zum Frühlingsfest "Jare Gody" gekommen. Er sei Patriot, betont er, aber kein Nationalist. Nein, ins Mikrofon möchte er das nicht sagen. Er will die polnische Kultur in Polen ausleben können und uneingeschränkt die polnische Sprache sprechen. Mir persönlich fallen keine Orte in Polen ein, an denen das nicht möglich ist.
Eine Frau Anfang vierzig ist heute zum ersten Mal dabei – zum Schnuppern wie sie sagt. Sie arbeitet als freischaffende Restauratorin und lebt mit ihrer lesbischen Freundin unweit von Warschau. Auch sie fühlt sich in der Lagerfeueratmosphäre sehr wohl.
Mann schwingt Fahne: grüner Hintergrund mit gelben Runensymbol
Ein Teilnehmer des Frühlingsmarsches schwingt eine Fahne mit dem Runensymbol, das “Hände Gottes” genannt wird. © Sebstian Meissner
Sława – übersetzt: Ehre – rufen alle im Kreis Versammelten jedes Mal, wenn sie den slawischen Göttern ihren Dank aussprechen.
Die gesamte "Jare-Gody-Zeremonie" wirkt auf mich etwas krude und steif. Die Liturgie wird ohne besonderen theologischen Tiefgang abgespult und die Anwesenden wirken bei der Ausübung von angeblich tausendjährigen Ritualen wenig emotional – so gar nicht wie Menschen, die Glauben oder Spiritualität suchen.

Dient Neopaganismus dem Rechtsruck in Polen?

Auch Marcin Tollik, ein Mitglied des Aufsichtsrates der "Eingeborenen Kirche Polens", ist anwesend. Er ist Anwalt und arbeitet in Warschau. Für ihn hat der Neopaganismus eine europafreundliche Gesinnung. Es gebe auch in Deutschland solche Bewegungen, erzählt er, die sich auf die Kultur der Germanen beziehen, und das gefällt ihm.
"Ein Teil der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns hat altslawische Vorfahren. Das haben genetische Wissenschaftsstudien gezeigt. In diesen Regionen war die slawische Zivilisation am weitesten entwickelt, dort liegt ihre Wiege. Vielleicht werden irgendwann sogar einige Deutsche ihre slawischen Wurzeln für sich wiederentdecken können – und eine Identität als Slawen entwickeln."
Bevor er sich gleich auf den Weg nach Warschau macht, zeigt er mir seine selbstverlegte Broschüre, in der zehn Polen erzählen, wie sie zum Neopaganismus fanden. Auf dem Cover: mehrere Hakenkreuz-Variationen. Nein, mit faschistischen Symbolen hätten sie nichts zu tun, erklärt Tollik, und bedauert, dass wegen der paar düsteren Jahre in der Geschichte Europas dieses uralte slawische Symbol so in Verruf geraten sei. Doch es den ultra-rechten Paganisten-Bünden wie "Niklot" zu überlassen, komme für ihn nicht infrage.
Während er und auch andere Mitglieder der "Eingeborenen Kirche Polens" so hartnäckig – und leidenschaftlich – für die Rehabilitierung des Hakenkreuzes streiten, merken sie nicht, wie sie – absichtlich oder nicht – dem Rechtsruck in Polen eher dienen als schaden.
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