Skurriles Spiel

Von Jörn Florian Fuchs · 25.09.2010
Wenn man es nüchtern betrachtet, dann geht es bei Hans Werner Henzes neuestem Musiktheater-Streich reichlich seltsam zu. Das fängt schon bei der Handlung an: Die deutsche Studentin Gisela Geldmaier fährt mit ihrem Verlobten Hanspeter Schluckebier von Oberhausen nach Neapel, dort gibt es rasch eine Entlobung aufgrund des italienischen Sonnyboys Gennaro.
Gennaro ist allerdings auch ein begabter Mime der Commedia dell'Arte, zudem Reiseführer durch reale wie irreale Welten. Henzes Librettisten Michael Kerstan und Christian Lehnert schicken ihre Protagonisten durch sieben knappe Szenen, man(n) kämpft um Weib und Ehre, während Frau sich in eskapistische Hoffnungen und wirre Angstfantasien flüchtet. Dazu werden so ziemlich alle Klischees abgefrühstückt, von den Macho-Südländern bis zu den deutschen Italienfans, die in der heimischen Trattoria gern ein Glas Tschanti und zwei doppelte Espressis ordern.

Eigentlich ist vieles an Henzes neuem Werk ziemlich trivial. Und doch liegt über dem Uraufführungsabend in der Maschinenhalle der Gladbecker Zeche Zweckel bisweilen ein Zauber. Dieser stellt sich immer dann ein, wenn die Szenerie überraschend ins Unerwartete, Surreale kippt. Etwa bei drei Traumsequenzen, hier irrt Gisela durch Labyrinthe von recht unterschiedlicher Natur: sie stößt ebenso auf einen sich zum Prinz wandelnden Frosch wie auf einen veritablen Mordsgesellen, der ihrem Geliebten Gennaro sehr ähnlich sieht.

Pierre Audi setzt in seiner detailliert gearbeiteten Inszenierung auf große Raumwirkungen, ein ganzer Bahnhof steht da auf der Bühne, drei große Kuben dienen als Projektionsfläche für Videos, in bzw. unter ihnen gibt es weitere Spielorte: ein Restaurant, ein Zugabteil, ein Wohnzimmer. Henzes Musik flimmert und flirrt dabei in vielfältigen Farben, wobei ein Hang zum Einfachen und Reduzierten unüberhörbar ist.

Der das Geschehen begleitende Chor etwa singt klangschön-redundante Kantilenen, die von keiner Dissonanz getrübt sind, während Giselas Träumen ertönen gediegene Bach-Bearbeitungen, ansonsten gibt es jede Menge Schlagzeugkrach und als Kontrast oft wunderbar sanfte Glucksereien von Klavier und Marimbaphon. Monteverdis Ulisse wird kurz zitiert, aber vor allem hält sich Henze an einen Leitsatz des seligen Rudi Carrell: Man darf und soll reichlich klauen, aber bitte nur bei sich.

Am Ende finden Gennaro und Gisela doch noch zueinander und als sich der Italiener gerade für die städtebaulichen Schönheiten Oberhausens zu begeistern anschickt, da bricht plötzlich der Vesuv aus und es regnet Asche auf das hehre Paar. Eine metaphysische Nuss zum Schluss – oder vielleicht auch nur ein Verweis aufs vernetzte Ökosystem Erde?

Das Publikum spendete diesem skurrilen Spiel zwischen Spaß und Ernst recht freundlichen, aber nicht euphorischen Applaus. Der Meister selbst nahm die Huldigungen sichtlich bewegt aus dem Rollstuhl entgegen.

Er applaudierte wiederum dem sehr jungen Ensemble, das unter der sorgfältigen Leitung von Steven Sloane wirklich brillante Leistungen erbrachte. Das Studio musikFabrik und der Jugend-Kammerchor aus Dortmund, aber auch die Solisten Fausto Reinhart als Gennaro, Michael Dahmen als deutscher Langweiler Hanspeter und Hanna Herfurtner in der Titelpartie – sie alle überzeugten vollauf, wobei Herfurtners zart schmelzende Soprantöne wohl noch am längsten im Ohr bleiben werden.

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