Sklaverei in Brasilien

"Sie lebten mit Rindern in einem Stall"

Bruder Xavier Plassat, Koordinator der Nationalen Kampagne gegen Sklavenarbeit der CPT, auf dem Fluss Rio Araguaia
Bruder Xavier Plassat, Koordinator der Nationalen Kampagne gegen Sklavenarbeit der Kommission für Landpastoral der brasilianischen Bischofskonferenz, auf dem Fluss Rio Araguaia © Adveniat
Dominikaner Xavier Plassat im Gespräch mit Isabella Kolar · 18.12.2017
Die Regierung Brasiliens hat schon 1995 anerkannt, dass es immer noch Sklaverei im Land gibt. Der Dominikaner Xavier Plassat kämpft seit 30 Jahren gegen diese menschenunwürdigen Zustände. Dafür bekommt er Menschenrechtspreise und Morddrohungen.
Isabella Kolar: Das Motto der bundesweiten Weihnachtsaktion von Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche, ist in diesem Jahr "Faire Arbeit. Würde. Helfen" und einer der Aktionsgäste, die von weit her, in diesem Fall aus Brasilien zu Gast in Deutschland sind, ist der französische Dominikaner Xavier Plassat, Koordinator der Nationalen Kampagne gegen Sklavenarbeit der Kommission für Landpastoral der brasilianischen Bischofskonferenz.
Ich freue mich, dass Sie heute zu Gast im Deutschlandfunk Kultur sind, Herr Plassat, guten Abend.
Xavier Plassat: Guten Abend!
Kolar: Herr Plassat, per Gesetz endete die Sklaverei in Brasilien offiziell im Jahre 1888. Das ist jetzt schon eine ganze Weile her. Sie kämpfen seit dem Ende der 80er Jahre bis heute gegen eine moderne Form der Sklaverei in Brasilien. Wovon sprechen wir da?
Xavier Plassat: Wenn wir heute von moderner Sklaverei sprechen, dann ist das nicht mehr mit den Zuständen von vor 300 oder 400 Jahre zu vergleichen, als die Sklaverei meist noch legal war. Aber es gibt Analogien zu jener Zeit, wenn auch heute noch Menschen nicht wie Menschen behandelt werden, sondern wie Dinge. Da geht es vor allem um die Menschenwürde und um die Möglichkeit, ein angemessenes Leben zu führen. In Amazonien zum Beispiel haben wir festgestellt, dass es über Zwischenhändler zu sklavenähnlichen Anstellungsverhältnissen kam, bei denen die Menschen quasi an die Farmen, auf denen sie arbeiteten, angekettet waren. Nicht mit realen Ketten, sondern mit Schulden, die ihnen aufgedrängt wurden. So etwas gibt es aber nicht nur im Amazonasgebiet, sondern auch in anderen Bereichen wie der Landwirtschaft, bei der Herstellung von Holzkohle oder im Bauwesen. Und in größeren Städten findet man auch solche Formen der sklavenähnlichen Arbeit.
Bruder Xavier Plassat spricht mit Joao Luis da Costa, 66 Jahre. Der ehemalige Sklave eines Großgrundbesitzers wurde mit seiner Hilfe befreit
Bruder Xavier Plassat spricht mit Joao Luis da Costa, 66 Jahre. Der ehemalige Sklave eines Großgrundbesitzers wurde mit seiner Hilfe befreit© Florian Kopp / Adveniat

Sie machen den Menschen falsche Versprechungen

Kolar: Das heißt, wenn wir von Holzkohle und Bauwesen sprechen, dann sprechen wir von verschiedenen beruflichen Feldern, das heißt, es sind ganz unterschiedliche Berufsgruppen betroffen?
Xavier Plassat: Um das zu verstehen, muss man sich vorstellen, dass es sich um Menschen handelt, die von falschen Versprechungen angezogen werden. Sie leben unter schwierigsten Umständen: Sie haben keine eigenen Grundstücke, die sie bewirtschaften können, sie haben keine Schulbildung, sie leben unter schlechten gesundheitlichen Bedingungen und sind im Prinzip bereit zu jeder Arbeit, die ihnen hilft, sich aus dieser Lage zu befreien. Und dann kommen diese Zwischenhändler, die ihnen falsche Versprechungen machen und sie als Arbeitskräfte anwerben im Auftrag von Farmbesitzern oder Unternehmern aus der Bau- Stahl- oder Kleidungsbranche. Und die tun das deshalb, weil vor Ort entweder keine Arbeitskräfte vorhanden sind oder die dort nicht bereit sind, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
Kolar: Wenn Sie von Menschen sprechen, die keinen Zugang zu Erde haben, ist dieser Zugang zu Land, die Möglichkeit, Land zu besitzen, die eigentliche Machtfrage, der eigentliche Knackpunkt bei dieser Form der Sklaverei?
Xavier Plassat: Klar. Wir haben eine jahrhundertealte Erbschaft zu tragen bei der Konzentration von Landbesitz, der damals von der portugiesischen Krone verteilt wurde und der sich zunehmend in wenigen Händen konzentriert hat, also nie richtig umverteilt worden ist. Zwar gibt es Versuche, zu einer neuen Landverteilung zu gelangen, doch bis heute konzentrieren sich die Besitztümer auf wenige Unternehmen. Und die Landarbeiter selber stehen ohne Land da und müssen deshalb auf dem Land fremder Menschen arbeiten.

"Bisher wurden 52.500 Menschen befreit"

Kolar: Können Sie uns ein Beispiel für Sklavenarbeit aus Ihrer täglichen Praxis geben?
Xavier Plassat: Es gibt so viele Beispiele, die ich erlebt habe. Gerade vor kurzem wurden acht Arbeiter befreit in der Region Araguaína in Tocantins, wo ich lebe, und das waren vor allem Jugendliche und eine Frau mit einem Kind. Sie hatten noch nicht einmal eine Unterkunft, sie haben in einem Stall gelebt inmitten der Rinder. Sie hatten keine Matrazen dort, es gab keinen Schutz vor Regen, sie hatten kein Werkzeug für ihre Arbeit, dem Bestellen und Einfrieden der Weide. Und sie hatten dafür auch keine Schutzkleidung. Der Lohn wurde ihnen auch nicht gezahlt und wenn die jungen Menschen samstags und sonntags nicht zur Arbeit gegangen sind, dann mussten sie auch für ihre Lebensmittel zahlen. Einmal kam in einem anderen Fall ein Arbeiter auf mich zu und weinte und sagte: "Bruder Xavier, was ich erlebt habe, das kann ich noch nicht einmal meinen Söhnen erzählen, so sehr schäme ich mich." Und das sagt viel darüber aus, wie ein Mensch als Mensch degradiert und heruntergemacht wird.
Kolar: Kann es wirklich sein, wie Sie errechnet haben, dass in den letzten 20 Jahren über 50.000 Arbeiter von Einsatztrupps der Regierung befreit werden mussten?
Xavier Plassat: Wir haben genau 52.500 Menschen gezählt, die in den letzten Jahren aus sklavenähnlichen Verhältnissen befreit wurden. In den ersten sechs bis sieben Jahren waren es noch viel weniger. Wir machen das seit 1995 und seit 2003 wurde dieser Kampf gegen die Sklavenarbeit intensiviert. Es kam vor, das wir in einem einzigen Jahr über 5000 Menschen befreit haben. Durch die Einführung von mobilen Einsatztrupps wurde unsere Arbeit dann verstärkt und verbessert.
Brasiliens Präsident Michel Temer sitzt an seinem Schreibtisch
Brasiliens Präsident Michel Temer© EFE

Rückschritt beim Kampf gegen Sklavenarbeit

Kolar: Aber das heißt, dass die Regierung Brasiliens Sie bei Ihren Bemühungen unterstützt. Wie ist die Position von Brasiliens Präsident Michel Temer zu der Existenz von Sklaverei in seinem Land?
Xavier Plassat: Die aktuelle Regierung von Temer hat vor allem das Ziel, den gesellschaftlichen Gruppen gerecht zu werden, die ihn gewählt haben, deren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen. Es geht darum, die Versprechen zu erfüllen, die Temer im Wahlkampf gegeben hat. Das heißt, es wurden die Anforderungen und Regeln gelockert, die im Bereich von Arbeit- und Umweltschutz existierten. Wir stellen im Moment einen brutalen Rückschritt fest beim Kampf gegen die Sklavenarbeit. Zum einen wurde deren Definition überarbeitet. Auch wird die schwarze Liste der Unternehmen, die Sklavenarbeit zulassen, nicht mehr veröffentlicht. Außerdem wurde die Autonomie und damit die Handlungsfähigkeit der Inspektoren, die in die Regionen fahren, um Firmen zu überprüfen, eingeschränkt.
Kolar: In Deutschland ist die Konsequenz aus dem eigenen Konsumverhalten in anderen Ländern mehr und mehr ein Thema. Die BWL-Professorin Evi Hartmann hat in ihrem Buch "Wie viele Sklaven halten Sie?" beschrieben, dass sich jeder Deutsche im Schnitt 60 Sklaven hält. Was haben wir mit der Sklaverei in Brasilien zu tun?
Xavier Plassat: Wir leben heute in einer globalen Wirtschaft mit weltweit tausenden Verbindungen im Herstellungsprozess. Und wenn wir zum Beispiel als Brasilianer Weltmeister sind in der Viehzucht, in der Herstellung von Rindfleisch oder Hühnerfleisch, oder wenn wir Soja exportieren, dann sind das immer Bereiche in denen Sklavenarbeit vorkommt und diese Produkte werden ja auch in Deutschland gekauft und konsumiert. Ein anderes Beispiel ist die Holzkohle aus Brasilien, die bei der Herstellung oder Verarbeitung von Stahl, verwendet wird. Oder die Fahrzeuge und Kühlschränke, die in Lateinamerika produziert und in den USA verkauft werden: Das ist eine globale Produktionskette, die uns alle miteinander verbindet und sowohl wir als Konsumenten als auch die Produzenten sind hier gefragt, ganz wachsam zu sein, damit es eben nicht Sozialdumping gibt, und wir billige Preise zahlen auf Kosten der Ärmsten und auf Kosten von denjenigen, die unter diesen Bedingungen arbeiten.
Bruder Xavier Plassat am Schreibtisch in seinem privaten Zimmer in Araguaína
Bruder Xavier Plassat am Schreibtisch in seinem privaten Zimmer in Araguaína© Florian Kopp / Adveniat

Viel skrupellose Kreativität der Unternehmer

Kolar: Sie haben vor 30 Jahren beschlossen, ihre Heimat Frankreich zu verlassen und ihr Leben diesem Kampf gegen die Sklaverei in Brasilien zu widmen. Sie erhalten Menschenrechtspreise auf der einen und Morddrohungen auf der anderen Seite. Haben Sie manchmal Zweifel, dass dieser Weg der Richtige war, den Sie gewählt haben, haben Sie manchmal Angst?
Xavier Plassat: Ich sehe schon, dass es seit 30 Jahren viele Fortschritte gegeben hat. Und ich bereue es auch nicht, mein Leben dem Kampf gegen die Sklavenarbeit gewidmet zu haben. Und ich habe das ja auch nicht alleine gemacht, sondern in Zusammenarbeit mit vielen Freunden und Organisationen. Das, was uns gelungen ist, ist uns gelungen, weil wir uns zusammengeschlossen haben. Aber natürlich ist dieser Kampf für Gerechtigkeit nicht einfach, und es gibt hier viel skrupellose Kreativität der Unternehmer, die geradezu unglaublich ist. Und das, was heute funktioniert, kann morgen schon wieder hinterfragt oder aufgehoben werden. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, die brasilianische aber auch die internationale Gemeinschaft immer weiter zu mobilisieren, damit wir weiter Fortschritte machen. Es hat Drohungen gegen uns gegeben, aber ich habe keine große Angst, nein. Ich habe vielmehr Angst, dass die Menschen, die vor Ort arbeiten, die Gemeindeleiter, die sich einsetzen und die Arbeiter selbst, die ihre Stimme erheben und anklagen, dass die nicht die gleiche institutionelle Unterstützung haben wie wir, deshalb mache ich mir um sie mehr Sorgen.
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