Skalierbare Geschäftsmodelle

Wenn das Wachstum den Menschen frisst

Eine Rakete werde abgehen, so die Botschaft von Oliver Samwer beim Börsengangs seiner Drei-Brüder-Dachgesellschaft "Rocket Internet", Oktober 2014
Eine Rakete werde abgehen, so die Botschaft von Oliver Samwer beim Börsengangs seiner Drei-Brüder-Dachgesellschaft "Rocket Internet", Oktober 2014 © dpa / picture-alliance / Boris Roessler
Von Florian Felix Weyh · 19.07.2016
Wer ein Start-up gründen will, muss lukratives Wachstum bei möglichst minimalem Einsatz von Ressourcen und Investitionen versprechen. Das wird auch dort von Investoren gefordert, wo es gar nicht eintreten kann, etwa bei Lieferfahrern und Lagerarbeitern.
Reid Hoffman: "First question is: When do you blitzscale?"
Rolf Dobelli: "Stinkreich sind wir nicht geworden, aber wir konnten uns einigermaßen bequem einrichten im Leben."
Eric Schmidt: "It's easy to double. It's very hard to quadruple every year."
Marissa Mayer: "Oh, I think there were so many interesting scaling lessons at Google."
Joel Kaczmarek: "Skalierung meint eigentlich das schnelle Wachstum eines Geschäfts oder eines Geschäftsmodells."
Martin Burckhardt: "Skalierung ist das, was unsere Sinne übersteigt."
Joel Kaczmarek: "Das Ziel von Skalierung ist immer Wachstum! Weil Wachstum bedeutet Umsatzzugewinn, und viele Geschäftsmodelle heutzutage sind ja durch externe Investoren finanziert. Und damit's irgendwie börseninteressant ist, muss es viel Umsatz machen, und viel Umsatz kommt durch viel verkaufen. Viel verkaufen bedeutet Skalierung, bedeutet Reichweite."
Rolf Dobelli: "Nur über Skalierung kriegt man das Geld wieder rein! Man muss halt sehen, Venture Capital ist wie Roulettespielen. Außer dass man nicht genau weiß: Wer kriegt zum Schluss den Gewinn? Bei Roulette weiß man: Die Bank kriegt's! Bei Venture Capital weiß man's, dass die Chance, dass man irgendwie rauskommt, sehr klein ist."
Lisa Herzog: "Ich hab von einem Kollegen erzählt bekommen, dass er mal in einer Veranstaltung saß, und neben ihm hat ein Student gerade einen Businessplan geschrieben, das sollte irgendwie 'Uber-Bubble-Tea' werden. Also man kann Uber fahren und dazu Bubble Tea trinken – das war dann die tolle Geschäftsidee!"

2008 ging das Geschäftsmodell durch die Decke

Tolle Geschäftsideen, Geburtsjahrgang 2000 machte es auf einigen Mobiltelefonen. 2002, 2003, 2004 ...
"Der kleine Pauli singt: 'Ich liebe dich, obwohl du scheiße bist, so scheiße bist, so scheiße bist! Noch nie hab ich jemanden so vermisst, obwohl du richtig scheiße bist'",
erweiterte sich das Repertoire. 2006, 2007, 2008 ging das Geschäftsmodell durch die Decke.
Jamba-Werbespot:

"Jetzt! Nur 1 Euro je Ton im Jamba-Monatspaket! Schicke Ton 1, Ton 2 oder Ton 3 an fünfmal die 3! Sofort schickt dir Jamba deinen Nokia-Ton aufs Handy. Und eine SMS mit noch mehr Top-Klingeltönen zur Auswahl!"
"Man erstellt Armutsberichte und lässt Klingeltonverkauf zu",[1]
ätzte schließlich 2010 der Soziologe Frank Hertel.

Jamba - ein Vorbilder für smarte Geschäftemacher

Doch da war schon ganz Europa besetzt. Von Jamba.
"Jamba ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Skalierung im Prinzip vorantreiben kann, auf welches Level. Viele Leute kennen das ja noch als dieses Produkt, was bei Viva, MTV immer rüberflackerte, wo ich mir Klingeltöne mit dem nervigen Frosch geholt habe. So! Das war's ja am Anfang nicht",
erzählt Joel Kaczmarek. Unter dem Titel "Die Paten des Internets" hat er eine Biografie der Samwer-Brüder geschrieben, der umtriebigsten deutschen Digitalunternehmer, die mit Jamba ihren Durchbruch erlebten. Kaczmarek betreibt das Informationsportal "Digital Compakt", und als ehemaliger Chefredakteur des Online-Mediums "Gründerszene" ist er Fachmann für den Kapitalismus ... irgendwas mit Null. Und Eins. Und Null. Und Spezialist für alle Jamba-Nachfolger dieser Welt. Denn Jamba ist eines der Vorbilder für smarte Geschäftemacher im Zeitalter des digitalen Kapitalismus ... zwei Punkt Null, drei Punkt Null, vier Punkt Null.
Joel Kaczmarek: "Als das begonnen hat, war das eigentlich gedacht als ein Yahoo für das Handy. Also ein Suchportal, man dachte, das Internet würde im Browser auf dem Handy auch stattfinden, so wie es im Netz auch ist. War aber nicht so! Und dann steht man da und sagt: Ich hab ein Unternehmen, was mit mehreren Millionen Euro von großen Handelsriesen finanziert ist, mein Geschäftsmodell funktioniert gar nicht. Und dann muss man das machen, was man in der Szene einen 'Pivot' nennt: Also man dreht sein Geschäftsmodell. So, und bei den Samwers war das so, die haben dann irgendwann gemerkt: 'Okay, Klingeltöne funktionieren aber gut!' Dann haben sie's im Einzelverkauf gemacht. Dann aber gemerkt: 'Momentchen mal – geben wir doch gleich ein Abo!' Ein Lied reicht doch nicht, ich will doch fünf verkaufen, dann krieg ich fünf Euro. Oder bisschen günstiger, weil's ein Set ist. Dann hast du aber irgendwann gemerkt: 'Käse, jetzt haben de alle schon das Abo, die haben alle schon fünf Songs. Da müssen wir die Abos diversifizieren. Da machen wir jetzt ein Rap-Abo, ein Hiphop-Abo, ein Pop-Abo, ein Rock-Abo.' Und schon hat man wieder einen neuen Weg gefunden, das Geschäft zu skalieren.
"Wenn's digitalisiert, skaliert's. Dann bin ich seine Materialität eigentlich los! Digitalisierung heißt Materiezerstörung",
erklärt der Berliner Philosoph, Schriftsteller und Programmierer Martin Burckhardt.
Michael Seemann
Der Blogger und Kulturwissenschaftler Michael Seemann zu Gast beim Deutschlandradio Kultur© Deutschlandradio / Maurice Wojach
Und sein publizistischer Kollege Michael Seemann erklärt uns in seinem Buch "Das neue Spiel", wie das funktioniert:
"In der Ökonomie heißen die Kosten, die aufgewendet werden müssen, um ein zusätzliches Stück eines Gutes zu produzieren, Grenzkosten. Im Gegensatz zu den Investitionskosten, die nur einmal am Anfang getätigt werden (zum Beispiel ein Lied schreiben, einspielen und produzieren), gelten die Grenzkosten für jedes zusätzlich produzierte Stück. (...) Wenn mit dem Internet eine Datei in Sekunden und auf Knopfdruck milliardenfach reproduzierbar ist, bedeutet das, dass die Grenzkosten bei beinahe Null liegen."[2]
Das führt dann zu jenen atemberaubenden Skaleneffekten, die jeden Unternehmer in einen Goldrausch à la Dagobert Duck versetzen.
"Skaleneffekte ergeben sich aus der Tatsache, dass der Preis pro produziertem Gut sinkt, wenn man mehr davon herstellt. Die anfangs getätigten Investitionen für Maschinen, Gebäude, Forschung und Entwicklung etc. verteilen sich auf mehr Produkte; (...) zudem gibt es gibt immer wieder Gelegenheiten zur Rationalisierung und Optimierung von Abläufen. (...) Je größer die Stückzahlen, die ein Unternehmen produziert, desto günstiger die Ware. Je günstiger die Ware, desto mehr Stückzahlen werden gekauft. Und so weiter."[3]
Martin Burckhardt: "Wir sagen, das sei jetzt was wert. Aber in Wahrheit, wenn etwas sich vervielfältigt und skaliert, wissen wir in unserer inneren, moralischen Wertschätzung, dass es immer billiger wird. Je mehr es verfügbar ist, desto billiger wird es. Die andere Seite der Skalierung ist die totale Entwertung."
"Als Plattform für Beratervermittlung ist Projectchamps grundsätzlich skalierbar..."
"Umsatzseitig könnte das Modell gut skalieren."
"... aber die Alleinstellung ist relativ gering."
"Der Wellness- und Fitnessmarkt ist ein großer Markt ..." /
"Die Gesellschaft verdient dabei an jeder Buchung. Das kann das Geschäftsmodell skalierbar machen."
"... in dem eine starke Skalierung durch ein gutes Produkt möglich ist."
"Mit uns kannst du skalieren und auch während Peaks entspannt Katzenbilder upvoten."
"Es profitieren eher die Angehörigen, bezahlen sollen aber die Sterbenden."
"Wir bieten dir eine individuelle, flexible und stabile Infrastruktur in zwei redundanten Rechenzentren mit persönlichen Ansprechpartnern."[4]
In "Berlin Valley" einer monatlichen Startup-Zeitschrift, wimmelt es nur so von Skalierungs-Formulierungen, nicht nur in den Selbstdarstellungen der Gründer, sondern auch in den Einschätzungen von Kapitalgebern – ja sogar in den Anzeigentexten!
"Unterlegt, vielleicht leise geflüstert, noch einmal den Satz 'Mit uns kannst du skalieren und auch während Peaks entspannt Katzenbilder upvoten'."
Kein Wunder, denn wir leben im digitalen Kapitalismus ... irgendwas mit Null. Und Eins. Und Millionen für die einen, und Null für die anderen. Der funktioniert entschieden anders als der antiquierte Kapitalismus ... irgendwas mit Materie.
"Einen Gegenstand kann ich nicht einfach aufblasen. Plötzlich ist die Masse dann so groß, dass dieses Ding irgendwie zerfällt",
sagt Martin Burckhardt.
"Ich hab eine Hundehütte. Okay? Und ich stell mir vor, so quasi: Ich möchte diese Hundehütte wirklich in der Skala hochziehen, mal zehn oder mal hundert. Was wird passieren, wenn ich dieses Ding höher mache? Dann wird die Masse der Wände so groß sein, dass diese Hundehütte zerfallen wird."
Nichts in der realen Welt lässt sich unendlich vergrößern, weder Hundehütten, noch Kathedralen, noch Geschäftsmodelle. Denn Materie hat ihre eigenen Gesetze. Eines davon besagt, dass sie physischen Kräften und damit Grenzen unterliegt. Ein anderes, dass Gütererzeugung – also auch jegliche Gewinnerzielung – mit Arbeit verbunden ist. Arbeit aber wird von Menschen geleistet.
Joel Kaczmarek: "Ist es gut, wenn man viele Leute braucht? Für ein Internetmodell eigentlich nicht. Weil Menschen produzieren Kosten, produzieren Reibung. Es ist durchaus attraktiver, geschäftsseitig jetzt – ob das jetzt volkswirtschaftlich so ist, sei mal dahingestellt –, aber geschäftsseitig ist es natürlich attraktiv, wenn ich mit möglichst wenigen Leuten viel Output generiere."
Diese Einschätzung ist seit zwei Jahrhunderten Grundbekenntnis des industriellen Fortschrittsglaubens. Vor Beginn der Industriegesellschaft konnte ein erfolgreicher Handwerker nur schwer seine Geschäfte erweitern. Wollte der Schuster mehr Schuhe herstellen, musste er Handlanger beschäftigen. Ein Gewinn ließ sich lediglich daraus ziehen, indem er diese Handlanger schlechter als sich selbst entlohnte. Prinzipiell aber erzeugte eine Geschäftsausweitung Verteilungseffekte – durch Weitergabe von Arbeit und vermehrten Einsatz von Material, an dem ebenfalls wieder Arbeitsleistungen hingen. Arbeit, Lohn – und letztlich der Gewinn – blieben auf viele Schultern verteilt.
"Das gab's halt früher in der physischen Ökonomie. Gab einen Metzger in der Stadt. Und es gab vielleicht noch einen zweiten, dritten, vierten Metzger. Und dann gab's in anderen Städten andere Metzger. Und das hat's alles vertragen",
erklärt Rolf Dobelli. Der Schweizer gehörte mit der Firma Getabstract zu den ganz frühen Internet-Startup-Gründern im deutschsprachigen Raum.
"Der Gedanke des Skalierens war von Anfang an da! Das war Teil unseres Geschäftsplans! Das hat ja das Internet auch sexy gemacht, dass man nicht mehr in den Druck gehen muss und physische so Buchzusammenfassungen eintüten, in Kuverts, Briefmarke draufkleben, versenden an den Abonnenten. Sondern dass das über E-Mail einfach so wunderbar herrlich kostenlos und schnell funktioniert. Wir haben 1999 gesagt: 'Es gibt so viele Bücher auf dem Markt und niemand hat Zeit, die zu lesen. Fassen wir die doch zusammen!' Und das ist so die einfachste Stufe des Internetgeschäfts, das Web 1.0, also das hat gut funktioniert und funktioniert noch immer gut."
Inzwischen besitzt Dobelli keine Anteile mehr an der Firma, die seit 1999 so erfolgreich Abstracts von Wirtschaftssachbüchern erstellt und verkauft, dass Branchengrößen aufmerksam wurden.
Rolf Dobelli: "Google kam mal auf uns zu, der Larry Page, und hat gesagt: 'Du, ist doch interessant' ... nein, es war Jeff Bezos von Amazon! Der kam zu uns und hat gesagt: 'Du, ist doch interessant, was ihr macht! Wir sind im Buchgeschäft, ihr seid da in irgendeiner Art Buchgeschäft, Buchzusammenfassung klingt interessant, würden euch kaufen ... aber blöd ist, dass ihr das manuell zusammenfassen müsst!' Und wir haben gesagt: 'Ja, ist halt dumm! Wir haben noch keine Roboter, die das zusammenfassen! Das muss wirklich manuell zusammengefasst werden, damit das in einer vernünftigen Qualität herauskommt."
2012 stellte Amazon-Chef Jeff Bezos das neue "Amazon Kindle" vor.
2012 stellte Amazon-Chef Jeff Bezos das neue "Amazon Kindle" vor.© picture alliance / dpa / EPA / Michael Nelson
Produkte, die manuell erzeugt werden und nicht von Maschinen, sind betriebswirtschaftlich unattraktiv – jedenfalls in den Augen solcher Mega-Unternehmer wie Amazon-Gründer Jeff Bezos. Das wussten auch schon die Manchesterkapitalisten des 19. Jahrhunderts. Ihre industrielle Praxis skalierte in beachtlichem Maße. Maschinen ersetzten Arbeitskräfte und warfen in vielen Branchen erhebliche Gewinne ab. Dennoch blieb der Materialeinsatz hoch, und die Maschinen vernichteten nicht nur Arbeitsplätze, sondern erzeugten auch neue. Schlecht bezahlte allerdings, und so setzte eine breite Verarmung auf der einen, vereinzelter Spitzenreichtum auf der anderen Seite ein. Erst politische Gegenbewegungen sorgten via Steuer-, Sozial- und Anti-Trust-Gesetzgebungen für eine bessere Verteilung der Produktivitätsgewinne. Man könnte sagen: Die sozialstaatliche Marktwirtschaft des 20. Jahrhunderts basierte auf den Skalierungserfolgen in der Güterproduktion – und auf der Tatsache, dass dieser Skalierung beizeiten der Giftzahn gezogen wurde.
Martin Burckhardt: "Wir rechnen noch immer in Menschen. Aber was skaliert, sind nicht Menschen."
Sondern Computer, die heutzutage immer mehr Arbeit in Null und Eins zerlegen und dann diesen Vorgang unaufhörlich und fast gratis repetieren.
"Gerade bei Internet-Startups ist die Skalierung des Geschäftsmodells der große Reiz. Software kann nahezu unendlich oft verkauft werden, ohne große weitere Kosten zu produzieren – während ein Flugzeugturbinenhersteller mit jeder weiteren Turbine auch neue Mitarbeiter und Ressourcen einkaufen muss",
erklärt der Venture-Kapitalist Julian von Hassell auf einer spezialisierten Gründer-Webseite, warum es für junge Menschen überhaupt nicht mehr darum gehen kann, sich am alten Kapitalismus zu orientieren.
"Entscheidend für ein gutes Startup ist deshalb, dass das Geschäftsmodell überhaupt so skalierbar ist, dass die Kosten nicht so schnell wachsen wie die Erlöse."[5]
Kosten: Menschen und Material. Erlöse: Geld für Unternehmer und Investoren. Die einen werden umso größer – Erlöse –, je kleiner die anderen sind, die Kosten. Verteilungswirkung: schief.
Rolf Dobelli: "Die Spreizung nimmt zu durch Digitalisierung. Und ich weiß auch noch nicht, wie wir das gesellschaftspolitisch abwälzen. Aber es braucht eine Umverteilung, da bin ich einverstanden. Aber wie man die genau macht, welche Abgaben oder Steuern oder was auch immer ... da bin ich mir noch nicht im Klaren. Aber für mich ist klar: Die steigende Inequalität von Einkommen und Vermögen, die muss ausgeglichen werden! Sonst haben wir irgendeinmal mittelfristig einen Zivilkrieg."
"Das Tolle an der digitalen Revolution ist, (...) dass es für uns realistisch ist (...) ein Unternehmen aufzubauen, in dem wir eine Arbeit nur einmal erledigen und dennoch mehrmals dafür bezahlt werden, und zwar passiv, ohne dass wir anwesend sein müssen. Passives Einkommen."
So beschreibt der britische Ex-Startup-Unternehmer und Autor Adam Fletcher das Ideal aller Gründer im 0/1-Paradies.
"Hat man das einmal erlebt, ist es, als würde eine kleine Glühbirne angehen; die Dunkelheit verschwindet, und man ruft: 'So muss es sein!'"[6]
Aber für wen? Für alle?
"Wenn man sich gerade bei so skalierbaren Gütern vorstellt, dass es im Grunde einen Wettbewerb gibt, wer als erstes den Markteintritt schafft, als erster groß wird – und alle anderen dann das Nachsehen haben, obwohl es am Anfang wirklich ganz minimale Unterschiede waren –, dann muss man schon sagen: Das war jetzt sicher nicht nur die Leistung derjenigen Gruppe, die dann den ersten Platz gewonnen hat",
erklärt die Volkswirtschaftlerin und Wirtschaftsphilosophin Lisa Herzog.
"Sondern da war auch viel Zufall im Spiel. Und man muss sich auch die Frage stellen, inwieweit es das Verdienst dieser Gruppe in irgendeinem Sinne ist, dass die so weit skalieren kann."
Martin Burckhardt: "Stinkend reich geworden sind nur diejenigen, die Riesenkorporationen aufbauen konnten, weil sie Menschen zusammen verbunden haben. Das sind Staatengründer! Steve Jobs ist wie ein Staatengründer. Der hat diese Kirche des Nichts gebaut, und alle finden seine Liturgie geil ... de facto verkauft er Seelen. Alle Leute, die stinkend reich geworden sind, sind eigentlich Seelenverkäufer! Das was sie reintun, ist ja die heiße Energie der User. Die machen ja die Arbeit."
Skalierungskapitalismus bringt "passives Einkommen" – um das betörende Wort von Adam Flechter zu verwenden – für Unternehmer und Investoren – nicht für den Rest der Welt. Besonders gut funktioniert er, wo man vollkommen im digitalen Universum verharrt, bei Netzwerken wie Facebook oder LinkedIn etwa. Dort sorgen die Nutzer für den gesamten inhaltlichen Betrieb. Netzwerke skalieren automatisch: Je mehr Menschen teilnehmen, desto mehr Nutzwert bekommt das Netzwerk, desto mehr Menschen zieht es an, desto wertvoller wird es. Ein Schlaraffenland-Kapitalismus für Investoren?
Rolf Dobelli: "Es gibt vielleicht noch zwei oder einen globalen Star in einem Bereich, und die anderen verträgt's nicht mehr. Die digitale Welt treibt uns zu einer Monopolgesellschaft. Es gibt Monopolanbieter, und dann kommt nichts mehr."
Was zugleich aber auch bedeutet: Man muss auf Teufelkommraus der am Ende übrigbleibende Monopolist sein. Die Expansion in alle Weltmärkte ist Pflicht, egal wie hoch die Anlaufkosten auch ausfallen mögen. Es ist ein anderes Spiel als früher, dieser digitale Kapitalismus ... irgendwas mit Null. Schneller. Härter. Chancenloser.
Rolf Dobelli: "Also das Venture Capital Business in den letzten 20 Jahren hat netto Geld verloren, statt Geld gemacht. Es sind wirklich dann einzelne geniale Unternehmer, die es schaffen, eine Monopolstellung zu kreieren, in irgendeiner Form."
Joel Kaczmarek: "Ein Samwer ist eigentlich darauf spezialisiert, schnell zu skalieren. Und ich würde mal sagen, mit einem Verkaufstalent gesegnet, dass die Rechnung dafür häufig andere bezahlen."
Oliver Samwer: "Das Beste ist, dass in unseren Ländern heute zwei Prozent E-Commerce-Penetration ist. Meine Länder werden gehen von zwei Prozent auf irgendwann 28 Prozent, 32 Prozent, 35 ... und Sie können sich vorstellen, was dann mit der Anzahl der Mitarbeiter, der Revenues und den finanziellen Kennzahlen passieren wird."
Eine Rakete werde abgehen, so die Botschaft von Oliver Samwer beim Börsengangs seiner Drei-Brüder-Dachgesellschaft "Rocket Internet", Oktober 2014.
Rolf Dobelli: "Soweit ich Olli Samwer einschätzen kann – und ich kenn ihn ein wenig –, geht es tatsächlich um Skalierung."
Knapp anderthalb Jahre nach dem Börsengang, nämlich im April 2016, meldete die Gesellschaft 200 Millionen Euro Verluste und blickte auf einen insgesamt frustrierenden Kursverlauf. Doch Verluste gehören zum Prinzip, wenn Geschwindigkeit vor Substanz geht. Entscheidend für Neo-Kapitalisten ist die Frage, wer den Schaden trägt?
Joel Kaczmarek: "Die Samwer-Logik ist halt an vielen Stellen, dass man selbst die Regeln vorgibt, aber mit Ressourcen anderer arbeitet."
Martin Burckhardt: "Die Sozialisierung der Verluste und die Privatisierung der Gewinne – das ist das, was wir Skalierung nennen."
Joel Kaczmarek: "Ressourcen anderer kann in dem Fall zum Beispiel ein Kinnevik aus Schweden sein, eine schwedische Beteiligungsgesellschaft, die das Kapital für viele der Wachstumsgeschichten da beisteuert. Das ist ja eigentlich faszinierend: Dass man in der Lage ist, fremdes Geld zu nehmen, mit dem zu arbeiten, dadurch das Wachstum, die Skalierung zu finanzieren – aber man selber ist eigentlich derjenige, der die Hauptwertschöpfung hinterher abgreift, eigentlich so die einzige, die stattfindet."
Denn obwohl Samwer-Gründungen seit fast 20 Jahren schwarze Zahlen vermissen lassen – sie sind ausschließlich auf Umsatzwachstum getrimmt –, gelingt es dem Brudertrio stets, seine Anteile lukrativ zu veräußern, bevor sich die Gretchenfrage der Nachhaltigkeit stellt. Dass dabei am Ende nur abgebrühte Großinvestoren die Zeche bezahlen würden, die ihr Investitionsrisiko nüchtern abwägen, ist allerdings bloß die halbe Wahrheit. Bei einem der brutalsten Skalierungsbeispiele der letzten Jahre, dem Gutscheinanbieter Groupon, musste auch so mancher kleine Geschäftspartner dran glauben. Dieses ebenfalls unter den Samwers rasant aufgeblasene Unternehmen besetzt den schwierigen Platz genau an der Schnittstelle zwischen digitaler und physischer Welt.
"Das war eine Plattform, da konnte man sich Gutscheine kaufen. Das heißt, ich krieg die Pizza irgendwie für fünf Euro statt für zehn, wenn ich so einen Gutschein dort vorzeige",
erläutert Joel Kaczmarek das Geschäftsmodell des Unternehmens.
Joel Kaczmarek: "Man ist dann hingegangen zu Händlern, zu Restaurants, zu Nagelstudios, Massageläden, hat gesagt: 'Hey guckt mal, das ist ganz toll, wir bringen euch Neukunden! Damit könnt ihr eure Leerzeiten füllen, ihr macht mehr Umsatz, nach hinten raus werden die ja zu Stammkunden!' Wurden sie nicht! Ja? Und dann hat man eigentlich Deckelung vorgesehen gehabt. Das heißt ein Restaurant sagt: 'Ich kann maximal 120 Gäste abfrühstücken mit Gutschein. Alles was darüber hinausgeht, wird zu viel.' So was ist dann im Eifer des Gefechts nicht bemerkt worden! Dann wurden halt nicht 120 Gutscheine verkauft, sondern 780."
"Man konnte zuschauen, wie die Anzahl stieg", sagt Sascha Hill. Auf der Homepage stiegen die Klicks der Käufer stündlich. Bei 100 hätte Hill gerne einen Stopp gemacht, doch das geht bei den Groupon-Aktionen nicht."
berichtete die "Süddeutsche Zeitung" 2011 über einen Münchner Hypnotiseur, der sich bei der Kundengewinnung via Gutschein verspekuliert hatte.
"Die Zahl seiner Patienten stieg und stieg, sein Telefon stand nicht mehr still. Alle wollten das Sonderangebot von drei Hypnosesitzungen zum Preis von 69 Euro statt 240 Euro. Ziel: Raucherentwöhnung oder Abnehmen."[7]
Joel Kaczmarek: "Das kann dir halt ganz schnell um die Ohren fliegen! In England gab's das auch mal mit so Törtchen, wo eine Kuchenbäckerin 150.000 Törtchen kochen musste. Die sind darüber pleite gegangen! Das ist ein ganz ansehnliches Beispiel dafür, dass die Skalierung im Virtuellen manchmal eine ganz, ganz andere ist als im Realen."
Martin Burckhardt: "Skalierung ist, wenn man so will, fast so was wie eine Feindschaft zum Material."
Material ist sperrig, muss geformt, bearbeitet, mitgeschleppt werden. Materialschlachten im Ersten Weltkrieg scheiterten. Im Zweiten etablierte sich eine andere Angriffsdoktrin, die eine hohe Faszination auf Skalierungs-Unternehmer von heute ausübt. Wie auf Oliver Samwer:
Joel Kaczmarek: "Es grassierte ja mal so eine bekannte E-Mail von ihm, die Blitzkrieg-E-Mail. Da hat er ja gesagt: 'We must start a blitzkrieg invasion'. Also wir müssen jeden Markt so schnell starten, dass das wie ein Blitzkrieg daherkommt, dass wir den Widerstand eigentlich schon plattmachen, bevor er sich eigentlich auch nur bilden kann."
Das ist keine sprachliche Entgleisung im Einzelfall.
Reid Hoffman: "First question is: When do you blitzscale?"

Die Blitzscaling-Ideologie

Vom Blitzkrieg leitet sich die Blitzscaling-Ideologie ab. Reid Hoffman, der Gründer des unlängst für 26,2 Milliarden US-Dollar an Microsoft verkauften Netzwerks LinkedIn hat den Terminus erfunden, wie er in einer Stanford-Vorlesung erklärt:
Reid Hoffman: "Die Leute hören 'Blitzkrieg' und denken: 'Zweiter Weltkrieg, Nazis ... böse!' Aber tatsächlich gibt es einige Parallelen. Eine der Schlüsselinnovationen im Blitzkrieg war, dass zuvor alle Kriege über die Nachschubkette geführt wurden. Du konntest die Front immer nur so weit nach vorn verlegen, wie es deine Nachschubkette erlaubte. Damit warst du begrenzt im Tempo, das du maximal riskieren konntest."
Mit dieser traditionellen Kriegführung brachen die Nazis und waren damit zunächst erfolgreich. Doch nicht dauerhaft. Denn ein solcher Vormarsch ist auf Verschleiß der eigenen Ressourcen angelegt. Man muss sein Ziel unbedingt innerhalb der gesetzten Zeit erreichen.
Reid Hoffman: "Sobald du den halben Weg geschafft hast, wirst du groß siegen oder scheitern. Wenn du scheiterst, scheiterst du entsetzlich! Ähnliches passiert, wenn du so skalierst: "Okay, ich werde meine Burnrate mächtig ankurbeln. Ich werde eine Menge Leute anstellen. Ich mache wirklich einen Durchmarsch!" Liegst du falsch, wird es sehr schmerzhaft. Es kann dein Tod sein."

Pioniere in Sachen Skalierung

"Die Samwers sind für mich die Pioniere (...) in Sachen internationale Skalierung",
lässt Joel Kaczmarek in seinem Buch einen Fan der Scaling Three zu Wort kommen.
"Sie waren dabei prozessinnovativ, indem sie sämtliche Waste-Prozesse, also jene Aktivitäten, die keinerlei Mehrwert schaffen, von Anfang an systematisch ausschalteten."[8]
"Waste" – englisch für "Müll, Abfall" – erzeugt auch die Verstetigung menschlicher Arbeit zu festen Arbeitsplätzen. Zwar kann ein skalierendes Internet-Unternehmen schon mal zwischendurch rasch viele Arbeitskräfte benötigen, um einen Markt zu erobern – aber wenn es irgend geht, werden diese dann anschließend durch Algorithmen ersetzt. Das ist das A und O des digitalen Kapitalismus ... irgendwas mit Null. Null Menschen?
Martin Burckhardt: "Wir erleben in der Digitalisierung eine unglaubliche Entwertung unserer eigenen Arbeit."
Selbst ganz konservative, handgreifliche Dienstleistungen sind davon bedroht. So macht neuerdings eine Umzugsplattform Speditionen digitale Konkurrenz, indem sie aus gesammelten Daten errechnet, wie teuer ein Umzug von A nach B ausfallen wird – und zwar ohne dass zuvor ein Mitarbeiter das Volumen des betreffenden Haushalts vor Ort ermittelt hätte.
Joel Kaczmarek: "So, da haben wir so ein klassisches Beispiel für einen Waste-Prozess auf eine Art. Es ist doch für mich Waste, wenn ich eine Person hinschicken muss, etwas zählen lassen, live, wenn ich das durch einen Computer automatisch berechnen lassen kann, anhand von Statistiken: Mit welcher Wahrscheinlichkeit passiert das? Lieg ich da mal daneben bei fünf Umzügen? Wahrscheinlich ja! Aber dafür bin ich bei fünf anderen vielleicht so gut, dass ich das wieder ausgleiche. Oder zehn oder zwanzig."

Maschinen können manchmal Dinge effizienter machen

Lisa Herzog: "Die Frage ist eben: Wie gut funktioniert der Ersetzungsprozess",
meint die Wirtschaftsphilosophin Lisa Herzog.
"Kann der Algorithmus das wirklich leisten? Oder sieht nicht doch der Mensch, der so eine Aufgabe erfüllt so viel mehr? Bekommt mit, wie genau die Familie da tickt, was für Wertgegenstände genau da verpackt werden müssen? Und kann dann letztlich doch sehr viel besser die relevante Information aggregieren."
Joel Kaczmarek: "Die Aufgabe, die der Mensch dort verrichten muss, ist Müll! Also Maschinen können manchmal Dinge effizienter machen als der Mensch, das ist, glaub ich, so der Kern."
Martin Burckhardt: "Ich hab ja irgendwann mal boshaft gesagt: Jede Arbeit, die man digitalisieren kann, verschwindet im Arbeitsspeicher. Und dann ist sie weg!"
Rolf Dobelli: "Jeder muss Angst haben, dessen Arbeit nicht kreativ ist."
Lisa Herzog: "Was wir uns wünschen würden, wäre natürlich, dass all die Veränderungsprozesse, Innovationen und so weiter zugelassen werden, die wirklich gesellschaftlich sinnvoll sind. Die auch nicht so disruptiv sind, dass sie die Gesellschaft vollkommen in Unordnung werfen. Aber dass diejenigen Prozesse nicht zugelassen werden, die eigentlich nur Kosten an andere externalisieren, die kollektive Errungenschaften wie zum Beispiel Arbeitsschutz unterlaufen und dem Sinne wirklich parasitär auf die bestehenden Institutionen aufsetzen und keine Wertschöpfung für die Gesellschaft bringen."
Wertschöpfung im eigentlichen Sinn – also nicht bloß Börsenkurs- oder Verkaufspreissteigerung eines Unternehmens – setzt allerdings einen Antrieb beim Unternehmer voraus, der über die bloße Funktionalität des Gewinnen- und Größerwerden Wollens hinausgeht.
Rolf Dobelli: "Das ist eine romantische Vorstellung, dass Leute immer einen Sinn haben müssen, hinter dem Geldmachen! Es gibt Leute, die haben Freude am Geldverdienen! Die nennt man Kapitalisten oder Urkapitalisten. Einer der Bekanntesten ist Warren Buffett. Der Mann hat Freude am Sammeln von Geld!"
"We want more people, we want more customers, we want more internet, we want more revenue. That's called capitalism",
Eric Schmidt gestikuliert während einer Rede
Eric Schmidt, bei einer Rede auf der NOAH-Konferenz in Berlin.© imago
intoniert auch Ex-Google-Chef Eric Schmidt dieses alte Mantra: Schneller –höher – weiter! Aber was soll er in seiner Stanford-Vorlesung über Blitzscaling auch anderes sagen? Die Studenten des Silicon Valley erwarten genau dies. Was sie statt abgehangener Kapitalismusformeln allerdings viel mehr bräuchten, wäre ein Ethos für den späteren geschäftlichen Alltag, das den überbordenden ökonomischen Enthusiasmus mit – ja! – Anstandsregeln verbindet.
"Ethos hat ja viel mit Langfristigkeit zu tun, und diese Geschäftsmodelle sind nicht auf Langfristigkeit ausgelegt. Und damit fällt auch der Mechanismus weg, dass es sich langfristig oft gar nicht lohnt, sich unmoralisch zu verhalten, weil man sich doch immer zweimal begegnet im Leben und doch wieder mit Leuten zusammenarbeiten muss. Das fällt alles weg, wenn man sehr kurzfristig arbeitet",
betont Lisa Herzog. Früher, im Geschäftsleben vor der "winner-takes-it-all"-Ideologie, gab es immerhin noch das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns. Ob mit Inbrunst praktiziert oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Zum Beispiel dem, auf das man Verordnungen und Gesetze notiert.
Lisa Herzog: "Der ehrbare Kaufmann hatte natürlich auch eine Situation, in der es sich für ihn bewährt hat, ehrbar zu sein! Und das ist auch wiederum eine staatliche und gesellschaftliche Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen es sich für die Einzelnen lohnt, so ein Ethos zu haben. Denn wenn sie immer die Dummen sind damit, dann ist auf Dauer nicht zu erwarten, dass sie sich halten können und nicht von anderen verdrängt werden, die da skrupelloser sind."
Martin Burckhardt: "Der Preis der Skalierung heißt Menschenleben. Das muss man definitiv so sagen. Auf der anderen Seite kann ein Mensch gigantisch hoch fliegen."
Fragt sich nur, ob dieser neue Renaissancefürst, dem dann alle Skalierungsgewinne zufließen, seinen Höhenflug zu etwas Gutem nutzt.

[1] Frank Hertel: "Knochenarbeit", München 2010 [Hanser Verlag], S. 143
[2] Michael Seemann »Das Neue Spiel«, Freiburg 2014 [orange press]. S. 82
[3] ebd. S. 104
[4] Zitate aus der Zeitschrift "Berlin Valley" März und April 2016
[5] http://www.deutsche-startups.de/2015/11/02/4-phasen-die-jedes-erfolgreiche-start-durchlaufen-muss/
[6] Adam Fletcher: »Wir können auch anders«, C.H. Beck 2015, S. 185f.
[7] Süddeutsche Zeitung v. 12.7.2011
[8] Kaczmarek ebd. S. 197
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