Siegfried Lenz: "Marvellas ganze Freude"

Mit Eigensinn und leiser Ironie

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Siegfried Lenz' einziges Kinderbuch: "Marvellas ganze Freude" © Hoffmann und Campe/picture alliance/dpa/Franz-Peter Tschauner
Von Silvia Schwab · 16.08.2017
Siegfried Lenz' Geschichte von der Kuh Marvella ist jetzt als Bilderbuch für Kinder erschienen. Darin ist der ironische Tonfall des Schriftstellers zu spüren. Unsere Kritikerin ist begeistert von den naiv-natürlichen und zugleich komischen Illustrationen des Zeichners Nikolaus Heidelbach.
Klar: Peter Härtling hat auch viele Kinderbücher geschrieben. Uwe Timm hat das "Rennschwein Rudi Rüssel" erfunden. Und Hans Magnus Enzensberger den "Zahlenteufel". Aber dass auch Siegfried Lenz ein Buch für Kinder geschrieben hat? Das war bisher unbekannt. Voilà: die Kuh Marvella. Jetzt ist sie als Bilderbuch erschienen.
Tiere gibt es in Bilderbüchern oft mehr als Menschen. Hunde und Katzen, Bären und Pinguine, Mäuse und Kaninchen. Aber Kühe? In Siegfried Lenz’ einzigem Bilderbuch, das jetzt gerade zum ersten Mal bei Hoffmann und Campe erschienen ist, erzählt der Autor der "Deutschstunde" von der glücklichen, braunen Kuh Marvella. Sie lebt in Kansas in den USA auf dem Bauernhof von Herrn Bollmann.

Beeindruckt von der Größe der Herden

Wie Siegfried Lenz dazu kam, ein Bilderbuch zu schreiben, ist nicht ganz sicher. Im Herbst 1962 reiste er zum ersten Mal in die USA und geriet durch Zufall auf die Farm eines Deutschen, der 1922 aus Schleswig-Holstein zugewandert war. Der betrieb eine Riesenranch, hier machte sich der junge Schriftsteller aus Hamburg bekannt mit dem harten Leben der Viehzüchter im Herzen der USA. Er war beeindruckt von der Größe der Herden, der Weite der Felder und der Schönheit der friedlichen Täler und blauen Berge. Es ist zu vermuten, dass ihm hier die Idee zu dieser Kindergeschichte kam.
Marvella ist nicht nur eine glückliche, sondern auch eine schöne und eigensinnige Kuh. Ihr bester Freund ist Bauer Herr Bollmann, und ihre größte Freude ist ein Güterzug. Der fährt zweimal am Tag an Mavellas Wiese vorbei, morgens hin, abends zurück, und jedes Mal tutet er, um Marvella zu begrüßen. Und wenn die grün-silberne Dieselmaschine an ihr vorbeifährt, grüßt Marvella sie mit einem langgezogenen "Muuuuh".

Unglück verhindert

Doch eines Tages kommt der Zug nicht. Marvella wartet vergebens, wird ganz krank vor Sorge und läuft endlich von zu Hause weg, um ihn zu suchen. Dabei entdeckt sie eine Eisenbahnbrücke, die vom Sturm zerstört wurde. Was nun passiert, kann man sich denken: Marvella stellt sich auf die Gleise, stoppt den verspäteten Zug und bewahrt ihn vor einem schrecklichen Unglück.
Wenn man nicht wüsste, dass Siegfried Lenz diese Geschichte geschrieben hat, könnte man es trotzdem ahnen. Die Liebe zu den Tieren und zur Natur, der Eigensinn seiner Protagonistin, die leise Ironie neben dem ernsten Hintergrund und die klare Struktur der Geschichte erinnern an den Schriftsteller aus Norddeutschland und seine bekannten Romane. Der Erzählton ist ein wenig behäbig, beschaulich, gemütlich – wie der Bauer Bollmann, die schöne dicke Kuh oder der Zugführer Weiß. Und der Grundgedanke seiner Geschichte könnte sein: Bleib bei dem, was du dir in den Kopf gesetzt hast, bei dem, was du liebst und brauchst. Lass dich nicht abbringen von deinen Gewohnheiten und deiner Sorge um Deine Lieben.

Kongenial bebildert

Fast 55 Jahre nach der Entstehung der Geschichte hat der Kölner Illustrator Nikolaus Heidelbach sie kongenial bebildert. Sein verschmitzter Herr Bollmann, die warme Kuh, der alberne Tierarzt oder die weite Landschaft sind so naiv-natürlich und zugleich komisch aquarelliert, dass auch Erwachsene ihren Spaß haben. So liebevoll und detailreich sind die großformatigen Bilder, dass man Lust hätte, sie zu rahmen und an die Wand zu hängen. Schade, dass Siegfried Lenz nur diese eine Kindergeschichte geschrieben hat.

Siegfried Lenz, "Marvellas ganze Freude"
ab 4 Jahre, mit Illustrationen von Nikolaus Heidelbach
Hoffmann und Campe, 2017, 48 Seiten, 18 Euro

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