Sie war "sehr unprätentiös" und "sehr humorvoll"

Ingo Schulze im Gespräch mit Ulrike Timm · 01.12.2011
Christa Wolf habe viel Witz, Sinn für Freunde und Familie und eine große Fähigkeit zum Nachdenken besessen, sagt der Schriftsteller Ingo Schulze. Auch noch in 30 oder 50 Jahren, meint der Autor, werden Christa Wolfs Bücher ihr Publikum finden.
Ulrike Timm: Sie starb im Alter von 82 Jahren in Berlin. Christa Wolf war eines der Aushängeschilder der DDR-Literatur. Zu ihren bekanntesten Büchern zählen "Kindheitsmuster", "Kassandra" oder der "Geteilte Himmel". Im vergangenen Jahr noch veröffentlichte Christa Wolf den großen Roman "Stadt der Engel". Wir wollen die Schriftstellerin im Gespräch mit einem Schriftsteller würdigen, der sie kannte, mit Ingo Schulze. Herr Schulze, ich grüße Sie!

Ingo Schulze: Guten Tag!

Timm: Herr Schulze, Christa Wolf hat sich ja in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Wann sind Sie ihr denn zuletzt begegnet?

Schulze: Zuletzt begegnet bin ich ihr Mitte Juni letzten Jahres, da war die Vorstellung Ihres Buches "Stadt der Engel" in der Akademie der Künste in Berlin. Da bin ich ihr begegnet.

Timm: Die Töne, die wir voran gespielt haben, Herr Schulze, die schlossen mit dem Satz: "Wenn ich heute zurückblicke, habe ich nicht das Gefühl, Leben versäumt zu haben". Hat sie als sicher bekannteste Schriftstellerin der DDR-Literatur - hochgelobt und nach 1989 wegen zeitweiliger Stasi-Verstrickung auch viel gescholten - hat Christa Wolf, eine Frau, die ihre eigene Zerrissenheit ja auch sehr offen lebte, hat sie gegen Ende ihres Lebens zu einer Ausgeglichenheit gefunden?

Schulze: Sie ist, glaube ich, jemand gewesen, die nie ruhig gewesen ist, die immer sich selbst auch und das, was sie gemacht hat, auf eine Art und Weise infrage gestellt hat, die natürlich das Leben nicht unbedingt einfach macht. Ich denke, dass sie eigentlich diese Fähigkeit, die auch viel Kraft forderte, dass sie das bis zum Schluss durchgehalten hat.

Timm: Herr Schulze, wir haben vor zwei Jahren schon mal miteinander gesprochen, aus Anlass des 80. Geburtstages von Christa Wolf, und da haben Sie erzählt, ein Buch, das Sie öfter mal lesen würden, immer wieder neu, das sei eigentlich ein weniger bekanntes, "Ein Tag im Jahr", in dem Christa Wolf einmal jährlich über den 27. September schreibt, 1960 bis 2000. Was ist Ihnen an diesem Buch, an diesen Erinnerungen so wichtig?

Schulze: Ja, dass sie jetzt gar nicht so als Erinnerungen daherkommen, sondern es sind ja quasi aus der unmittelbaren Gegenwart Aufzeichnungen, also noch am Abend gemacht oder am nächsten Tag. Und man steigt da wirklich so herab in die Vergangenheit und kann an diesen verschiedenen Beschreibungen des 27. September wirklich in die Vergangenheit steigen und hat so von jedem Jahr so einen Ton im Ohr, hat die Beschreibung und merkt dann, wie sich das verändert. Und da sind dann natürlich die ganzen Leerstellen, also von Jahr zu Jahr - was ist dazwischen passiert? -, und das ist eine faszinierende Lektüre. Also für mich ist das eigentlich so fast das Lieblingsbuch von ihr.

Timm: Kann man daran viel nachvollziehen, ihre Hoffnung auf die DDR, ihr Leiden an der DDR und auch ihre Aussagen und ihr Denken nach 1989?

Schulze: Ja, ich glaube schon, man bekommt die Selbstverständlichkeiten geliefert. Also sie schreibt natürlich aus einer bestimmten Haltung heraus, und man merkt, wenn man halt weiter liest oder einfach auch springt - das kann man ja auch machen -, merkt man, wie sich bestimmte Selbstverständlichkeiten geändert haben. Also einerseits dieser Druck in der DDR und dann diese - gerade wenn man das ´89er liest - diese Aufbruchsstimmung, diese Hoffnung, und dann muss man bloß weiterblättern, wie ist es denn ´90? Und dann liegen solche Welten dazwischen. Und man bekommt eigentlich die Selbstverständlichkeiten jedes Jahres geliefert, und das ist für mich faszinierend zu vergleichen.

Timm: Welche Werke werden überhaupt für Sie bleiben von Christa Wolf?

Schulze: Das ist schwer, jetzt so zu sagen, also ich lese sie und immer wieder. Mich hat auch "Stadt der Engel" fasziniert, weil da eigentlich so Dinge vergleichbar wurden, die sonst schwer vergleichbar sind. Also sie beschreibt halt die Realität in Los Angeles und konfrontiert das mit dem eigenen Erleben oder auch mit der eigenen Erinnerung. Und dadurch wird ´89, ´90 auch beschreibbar als ein Wechsel von Abhängigkeiten, also wenn man Freiheit nicht nur politisch fasst, sondern auch ökonomisch und sozial, dann wird das als ein Wechsel von Abhängigkeiten deutlich, und das macht sie sehr, sehr schön. Ich liebe sehr "Kein Ort nirgends", die "Kassandra" ist mir sehr wichtig. Das sind ja solche Sätze, die einem bleiben, also man misstraut den eigenen. Also ich finde auch, der "Nachdenken über Christa T." ist schon ein erstaunliches Buch - ich möchte mich jetzt dazu nicht aufschwingen und sagen: Das und das bleibt, ich lese es halt doch immer wieder.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Ingo Schulze über die heute verstorbene Schriftstellerin Christa Wolf. Herr Schulze, für viele Menschen in Ostdeutschland war sie ja lebensweisend, über Jahrzehnte. Ich glaube, aus den O-Tönen vorhin hat man auch ein bisschen verstanden, warum. Wie sehen Sie ihre Rolle jenseits der reinen Literatur? War sie auch so was wie Ratgeberin, Kummerkasten für viele Menschen?

Schulze: Das ist, glaube ich, eine Generationenfrage, das ist mir sehr fremd. Ich habe sie gar nicht so gesehen, und sie ist da, glaube ich, auch in eine Rolle gedrängt worden, wo sie dann aus so einer Verantwortung, glaube ich, da auch vieles angenommen hat. Ich war überrascht, ich kann das für mich sehr gut, aber dass hier jemand ist, die sehr unprätentiös ist, die jetzt gar nicht so an das große Werk denkt, die auch sehr humorvoll ist - sie hat so viel Witz, und ihre Familie war ihr ganz wichtig, überhaupt der Umgang mit Freunden, und da hatte sie auch ein großes Talent. Und was Sie eingangs sagten, dieses, sie hatte nicht das Gefühl, was versäumt zu haben, das rührt, glaube ich, daher, dass sie da in ihrem Freundes- und Familienkreis auch lebte und daraus die Kraft zog.

Timm: Man kann nicht über Christa Wolf sprechen, ohne über diese Instanz zu sprechen, die sie in der DDR eben auch war, und über die Schriftstellerin, die mit der Wendejahren dann heftig angegriffen wurde, weil sie die DDR zwar kritisierte - das haben wir auch mehrfach gehört -, aber sie war eben auch sehr loyal. Mühsam loyal, aber sie war loyal über Jahrzehnte SED-Mitglied. Das haben ihr dann viele im Nachhinein vorgeworfen. Wie sehen Sie dann von heute aus die Konflikte um Christa Wolf?

Schulze: Na ja, sie ist natürlich, glaube ich, auch stellvertretend angegriffen worden. Sie beschreibt das ja in ihrem letzten Buch, wie sie selbst dann mit dieser 48-seitigen Akte konfrontiert wurde, die man ihr ja nur heimlich zuspielte, die sie gar nicht selbst hätte sehen dürfen, und dann beschreibt sie auch ihr Erschrecken, wo sie sagt: Mein Gott, das habe ich tatsächlich vergessen, ich, die über die Erinnerung schreibt. Das war für sie, glaube ich, auch so ein Schock, und man muss es einfach aus der Zeit heraus verstehen, wenn sie da Ende der 50er-Jahre, da wird sie von welchen gefragt, und da sagt sie was. dann kann man natürlich später schon sagen: Ja, das hättest du nicht vergessen dürfen. Aber wichtig an ihr ist, ich glaube, sie hat niemandem geschadet, soweit ich das überblicke, und es ist irgendwie auch merkwürdig, dann immer auf diesen einen Punkt zu kommen. Es gibt ja dann auch die endlos lange sogenannte Opferakte. Und für mich war es wichtig, dass jemand wie sie eben nicht weggeht, dass sie es auch erwähnt, dass sie es völlig akzeptierte, dass man weggegangen ist. Aber es war wichtig, dass ihre Bücher weiter in der DDR erscheinen konnten, und auch die Rolle, die sie dann im Herbst 89 gespielt hat, war ja wichtig. Sie ist halt jemand gewesen, die Einzige, die auf diesem unsäglichen ersten Plenum´65 dagegen gesprochen hat, oder auch bei Biermann die Biermann-Petitionen unterzeichnet und auch mit initiiert. Da war eben einfach so vieles, wo sie wirklich immer Farbe bekannt hat, und das natürlich aber auch in so einer Zerrissenheit. Sie beschreibt eine Szene, wie sie da, glaube ich, zu Hager kommt und einfach dann das nicht mehr aushält und in Ohnmacht fällt.

Timm: Meinen Sie, dass ihre großen, ihre unbestritten großen Bücher wie "Kassandra" oder "Kein Ort, nirgends" die nächsten Jahrzehnte überdauern werden, weil sie zeitlos sind?

Schulze: Das kann man bei niemandem sagen, aber ich würde das schon annehmen, dass das auch in 30 oder 50 Jahren gelesen wird. Und sie hatte ja ihr Publikum nicht nur im Osten, das war ja so, wenn man irgendwo hinkommt, dann wird man eigentlich immer nach Grass und Christa Wolf gefragt.

Timm: Ingo Schulze, der Schriftsteller, in einer ersten Reaktion auf den Tod von Christa Wolf. Sie starb heute im Alter von 82 Jahren in Berlin. Herr Schulze, ich danke Ihnen sehr!

Schulze: Bitte.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Schriftsteller Ingo Schulze bei der Verleihung des Preises der Buchmesse in Leipzig
Der Schriftsteller Ingo Schulze© AP
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