Shlomo Avineri: Eingreiftruppe mit UN-Mandat muss Hisbollah entwaffnen

Moderation: Gabi Wuttke · 21.07.2006
Der israelische Politologe Shlomo Avineri hat einen internationalen Militäreinsatz mit UN-Mandat zur Entwaffnung der Hisbollah im Südlibanon gefordert. Die Truppe könne aus europäischen, amerikanischen und arabisch-muslimischen Soldaten bestehen, sagte der ehemalige Generaldirektor des israelischen Außenministeriums. Alle Staaten der Region mit Ausnahme von Iran und Syrien hätten Interesse an der Entwaffnung der Hisbollah, sagte Avineri.
Gabi Wuttke: Können Sie die Todesangst der Libanesen verstehen?

Shlomo Avineri: Klarerweise. So, wie ich auch verstehen kann die Todesangst von den Einwohnern von Nordisrael. Viele von denen sind von der Region im Norden des Landes geflüchtet. Aber das Problem ist nicht die psychologische Angst, die man versteht und mit der man Mitleid haben soll, auf beiden Seiten der Grenze und der Front. Das Problem ist ein grundlegendes Problem: Seit mehr als zehn Jahren beherrscht die libanesische Regierung nicht den Südlibanon. Im Südlibanon hat Hisbollah - das ist nicht nur eine fundamentalistische, religiöse Organisation, Hisbollah ist ein Staat im Staate, der eigentlich das Vakuum der libanesischen Regierung im Süden erfüllt hatte und seine Milizen, seine Raketen, seine Terrororganisationen, die ja auf Israel Anschläge in den letzten Jahren durchgeführt haben, zu einem Staat im Staate im Südlibanon errichtet hat. Das ist der Grund des jetzigen Problems. Und dieses Problem muss auch gelöst werden. Die Lösung ist nicht nur Waffenstillstand - das ist klarerweise sehr wichtig. Sondern: Was geschieht einen Tag später? Kommen wir zum Status quo zurück? Status quo war das Problem, nicht die Lösung. Wir haben jetzt, die internationale Gemeinschaft hat schon seit eineinhalb Jahren die libanesische Regierung ermächtigt, im Südlibanon ihre Autorität durchzuführen. Leider ist die libanesische Regierung zu schwach. Leider kann sie ihre eigene Armee in den Südlibanon nicht schicken. Leider kann sie die Hisbollah nicht entwaffnen. Und dafür braucht sie eine internationale Hilfe. Internationale Streitkräfte - nicht Blauhelme, die eigentlich nichts tun, sondern beobachten -, sondern internationale Streitkräfte wie im Balkan, die das legitime Recht der libanesischen Regierung im Südlibanon durchführen werden und der Hisbollah - eine politische Partei, wenn Sie wollen, aber auch eine Miliz und Terrororganisation - ein Ende machen werden, in der Art und Weise, wie es nicht möglich ist, einen solchen Staat im Staate weiter im Südlibanon zu haben.

Wuttke: Herr Avineri ...

Avineri: Einen Moment. Das ruiniert Libanon und das ruiniert klarerweise auch Israel.

Wuttke: Sie haben gerade gesagt, die Hisbollah als Staat im Staat. Das weiß auch der libanesische Ministerpräsident und deshalb hat er die internationale Gemeinschaft ja gebeten, ihn bei der Entwaffnung der Hisbollah zu unterstützen. Also jetzt erst mal eine Waffenruhe und dann weitersehen, wie tatsächlich das Problem vom Kern her angegangen werden kann?

Avineri: Gut, das Problem des Timing ist immer ein Problem in einer solchen Sache. Wir sind jetzt in einer Krise. Und Krisen sind manchmal historische Gelegenheiten. Ich will keine Beispiele geben, aber ich werde es doch geben: Jahrelang hat Europa, die ganze Welt, die internationale Gemeinschaft anerkannt, dass in Bosnien etwas Schreckliches geschieht; man hat die Serben kritisiert; man hat Mitgefühlt mit den Muslimen, mit den Bosniaken gehabt - nichts wurde getan. Dann kam die Krise nach Srebrenica und da hat man losgeschlagen gegen die Serben. Das ist jetzt das Problem wieder: Wenn es nur zu einem Waffenstillstand kommt, ist es gut. Es wird weniger geschossen, Menschen werden nicht getötet, Menschen werden nicht verletzt. Aber die Sache ist: Versuchen wir, noch einmal ein Palliativ zu schaffen oder eine Lösung des libanesischen Problems? Das ist nicht das Israel-Palästina-Problem, wo wir einen Streit haben zwischen zwei Nationalbewegungen. Das ist ein innerlibanesisches Problem, das, weil Hisbollah anti-israelisch ist, zur Zerstörung von Israel ruft, in die israelische Grenze überschwemmt. Und das muss in einer innerlibanesischen Lösung geschaffen werden und da brauchen die Libanesen nicht noch eine UNO-Resolution - sie haben sie, die UNO-Resolution 1559, die die libanesische Regierung unterstützt, aber das ist ein Stück Papier. Die libanesische Regierung muss eine robuste, bewaffnete Unterstützung von der Welt bekommen, mit Genehmigung von der UN, aber die, wie in Jugoslawien vielleicht nicht von der UN durchgeführt, es sollen dort europäische, amerikanische, vielleicht auch arabische und muslimische Streitkräfte von Marokko oder Saudi-Arabien und Pakistan kommen, um der libanesischen Regierung zu helfen. Das ist genau, was der Ministerpräsident vom Libanon, Fuad Siniora, gesagt hat. Und da gibt es trotz der jetzigen schwierigen Situation ein gemeinsames Interesse von Libanon, Israel und allen Ländern in der Gegend - außer vielleicht Syrien und Iran, die andere Agenda haben, und Hisbollah unterstützen.

Wuttke: Ein gemeinsames Interesse. Aber Sie sagen, es ist ein Problem, das der Libanon im eigenen Lande lösen muss. Adon ist der bedeutendste arabische Gegenwartsdichter und Inhaber eines libanesischen Passes, kritisiert, dass Israel dem Libanon die Möglichkeit nähme, sich zu einer Demokratie jenseits der arabischen Regime zu entwickeln. Eine Ansicht, die ja auch in Europa geteilt wird.

Avineri: Klarerweise. Schauen Sie, aber das Problem ist, dass es ist sehr schwer für Libanon, eine Demokratie - und in Libanon, erstens soll man sich erinnern: Mehr als 20 Jahre war Libanon von Syrien besetzt und ein syrischer Gauleiter hat Libanon beherrscht. Das ist den Libanesen gelungen voriges Jahr zu beenden, mit der internationalen Unterstützung. Aber die libanesische Regierung kann ein demokratisches Land nicht weiterentwickeln, wenn in einem Drittel des Landes eine militärische Miliz, die das Hoheitsrecht des libanesischen Parlaments, der libanesischen Regierung nicht durchführt. Das ist das Problem vom Libanon. Libanon ist heute kein funktionierender Staat. Und bevor es ein mehr demokratischer Staat sein kann - und Libanon hat bessere Chancen als jedes andere arabische Land, demokratisch zu sein: es ist westlich orientiert, es ist pluralistisch und hat keine Militärdiktatur, es hat keine Armee - deshalb hat es ja auch leider keine Macht, sich durchzusetzen im Süden -, die Chance ist da, aber Libanon muss wieder zu einem kohärenten Staatswesen gebracht werden. Das kann leider Libanon nicht allein machen. Und dafür braucht er die internationale Unterstützung. Und internationale Unterstützung ist nicht noch ein Stück Papier von der UN, sondern eine durchführbare militärische, bewaffnete internationale Truppe, die der libanesischen Armee die Unterstützung geben kann, die sie heute leider alleine nicht durchführen kann.

Wuttke: Shlomo Avineri im "Radiofeuilleton". Herr Avineri, kommen wir auf die augenblickliche Situation und auf Israel zu sprechen. Der Schriftsteller Meir Schalev spricht von einem "irrationalen berauschendem Gefühl der Macht", von dem die israelische Gesellschaft gerade getragen werde. Beschreibt er das richtig?

Avineri: Ich glaube, es ist etwas komplizierter. Einmal gibt es eine große fühlende Ohnmacht. Israel ist zwar ein starkes Land, wir haben ein starkes Militär. Aber ein großer Teil der israelischen Bevölkerung fühlt sich vollkommen in einer Ohnmacht von Raketen. Gestern, wie Sie vorher gemeldet haben, fielen "nur" 50 Raketen, "nur" 50 Raketen. Stellen Sie sich vor, dass auf Berlin heute "nur" 50 Raketen fallen werden. Da fühlt man sich sehr ohnmächtig. Und das ist das Paradox: Einerseits hat Israel eine sehr starke Armee, aber es fühlt sich ohnmächtig. Und Israel allein kann das Problem nicht lösen. Aber eine Schwächung der Hisbollah - und Hisbollah bis jetzt sehr brutal geschwächt im Libanon - kann vielleicht dazu bringen, dass die internationale Gemeinschaft, die bis jetzt nur schöne Worte von Mitgefühl und andere Floskeln benutzt hat, auch etwas tut, das vielleicht gefährlich ist. Ich kann sehr gut verstehen, dass EU-Länder, die Vereinigten Staaten, Russland, Marokko und so weiter, die sehr betrübt sind von dem, was sich im Libanon abspielt ...

Wuttke: ... denn es geht ja nicht so sehr um die Hisbollah-Bomben, die kritisiert werden, sondern dass im Libanon Zivilbevölkerung getroffen wird, tödlich getroffen wird.

Avineri: Klarerweise nicht gezielt getroffen, da muss man unterscheiden. Hisbollah ist eine Organisation, die gezielt - gezielt! -, israelische Städte, Dörfer - ob sie jüdische Städte sind oder arabische Städte wie Nazareth - angreift. Mit Raketen wurden keine Militärinstallationen angegriffen. Seit Anfang des Krieges oder des Kampfes vor neun Tagen wurden mehr als 1200 Raketen auf Israel, wurde Israel mit mehr als 1200 Raketen vom Libanon beschossen. Und keine von denen wurde an militärische Ziele geschickt, sondern - wie Hisbollah selbst sagt - Hisbollah sieht jeden Israeli - Mann, Frau, Kinder und so weiter - als legitimes Ziel ...

Wuttke: ... Herr Avineri, wenn ich noch mal dazwischen fragen kann: Amos Oz, der Schriftsteller, der seit Jahrzehnten als politischer Friedensaktivist bekannt ist, hat seinen politischen Standpunkt sehr klar und deutlich geändert. Er sagt, er steht voll und ganz hinter Ehud Olmerts Kampf gegen die Hisbollah. Hat Sie das überrascht?

Avineri: Ja erstens ist es nicht Olmerts Kampf. Bitte personalisieren Sie das nicht. Das ist ein - im Parlament wurde die jetzige Militäraktion von, ich glaube, 110 oder 111 von 120 Mitgliedern der Knesset unterstützt. Das ist nicht Olmerts Kampf. Das ist - und ich glaube, Amos Oz spricht da aus - ein großer Konsens in der israelischen Gesellschaft. Meinungsumfragen in den letzten Tagen beweisen, dass mehr oder weniger als 80 Prozent der Israelis das unterstützt. Und ich glaube, das wäre der Fall in jedem anderen Land. Stellen Sie sich vor, dass die Bundesrepublik von einer Organisation - nicht von einem Staat -, von einer Organisation, die weiß was für politische Ziele hätte, beschossen werden ...

Wuttke: ... aber genau das hat sich ja in der israelischen Intellektuellenszene auch geändert, diese Ansicht?

Avineri: Es hat sich nicht geändert. Es handelt sich um etwas ganz anderes im Südlibanon. Im Südlibanon haben wir zum ersten Mal eine Organisation, die - das ist nicht die Palästinensische Befreiungsorganisation, es ist da eine fundamentalistische, religiöse, fanatische Organisation, die offen sagt, dass Israel zu zerstören ist. Und das versucht sie zu tun. Klarerweise in einer solchen Situation haben Sie einen großen Konsens und Amos Oz, so wie Sie selbst sagen, ein Friedensaktivist in Israel auf der linken Seite der israelischen Politik, spricht das aus. Und deshalb viele von uns in Israel, die sehr kritisch in der Vergangenheit waren gegen bestimmte israelische Politik, gegen die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland und Gaza, sehen das ganz anders. Es handelt sich um etwas ganz anderes. Es ist ein Problem - und wieder: Da kann man das Problem verhältnismäßig leicht sozusagen lösen. Das Israel-Palästina-Problem ist ein Konflikt zwischen zwei Nationalbewegungen, sehr kompliziert, dafür gibt es keine einfache Lösung. Die Lösung im Libanon ist klar: Die Souveränität und das Hoheitsrecht der libanesischen Regierung im Süden durchzuführen. Die internationale Gemeinschaft durch den Sicherheitsrat und durch jede politische Unterstützung, die existiert, unterstützt diese Position. Die Sache ist: Wie wird das durchgeführt? Leider kann man Libanon nicht im Stich lassen. Mit Worten und mit Mitleid hilft man nicht den Libanesen. Da muss man etwas robuster tun, so wie man die Bosniaken in Bosnien und die Kosovo-Albaner leider mit Macht unterstützt hat. ...

Wuttke: Vielen Dank. Im "Radiofeuilleton", Herr Avineri, vielen Dank.