Shirley Collins: "Lodestar"

Folk-Legende feiert Comeback mit über 80

Album-Cover: "Lodestar" von Shirley Collins (Ausschnitt)
"Lodestar" - das neue Album der britischen Folkmusikerin Shirley Collins © Domino Records
Von Friedbert Meurer · 02.11.2016
Shirley Collins ist eine wahre Pionierin des Folk: Mit einem Tonbandgerät bewaffnet fand die britische Musikerin vor über einem halben Jahrhundert die traditionellen Songs. Als 81-Jährige kehrt sie nach langer Pause mit einem neuen Album zurück:"Lodestar".
Ein Bach plätschert friedlich dahin, so beginnt einer von Shirley Collins Songs. Sie öffnet mir die Tür zu ihrem bescheidenen Terrace House, einem Reihenmittelhaus. Die ruhige Seitenstraße führt hoch zum Castle von Lewes, einem malerischen Ort nicht weit entfernt von Brighton. Shirley Collins ist hier in der Nähe in Hastings aufgewachsen. Wohn- und Esszimmer in ihrem kleinen Haus mit Blumengarten hintendran sind eins. Von ihrem alten blauen Sofa und den Sesseln mag sie sich nicht trennen. Hier, eingezwängt zwischen Küche und Esstisch, hätten sie und die Musiker das gesamte Album "Lodestar", zu Deutsch "Leitstern", aufgenommen:
"Ich saß dort drüben auf dem alten Stuhl. Für das Lied 'Pretty Polly' wollten wir gerne Percussions haben. Alex Nearson, der Drummer sagte, ich kann das nur machen, wenn ich mein komplettes Schlagzeug hole. Das hat den halben Raum eingenommen. Es wurde wunderbar für den Song 'Pretty Polly'."

Lieder-Recherche mit dem Tonbandgerät

Den Song "Pretty Polly" hat Shirley Collins vor über 50 Jahren auf einer Farm in den USA aufgenommen, als sie gemeinsam mit dem Musikforscher Alan Lomax und mit einem Tonbandgerät bewaffnet in Louisiana Folksongs aufzeichnete. In Dörfern und auf Bauernhöfen ließen sie sich die Lieder vorsingen. Pretty Polly reißt von zu Hause aus und zieht - gekleidet wie ein Mann - in den amerikanischen Bürgerkrieg.
Sich teils Jahrhunderte alte Lieder vorsingen lassen, das hat Shirley Collins als Kind schon erlebt. Sie, Jahrgang 1935, hockte mit ihren Großeltern und ihrer Schwester in einem kleinen selbstgebauten Bunker, einem "Anderson Shelter". Hoch oben flogen die V 1 und V2-Raketen der Deutschen hinweg:
"Oma und Opa hatten einen provisorischen Bunker im Garten, das hatten viele. An den Stahlwänden war seitlich Erde aufgeworfen. Wir waren darin vergleichsweise sicher vor den deutschen Bombenangriffen. Um mich und meine Schwester zu beruhigen, sangen sie uns nachts vor, wenn wir im Bunker waren mit unseren Decken und Kissen."

Die Tradition als Orienierung

Shirley Collins sucht und singt traditionelle, alte Lieder. Alle Stücke auf ihrem neuen Album "Lodestar", "Leitstern", sind Songs, die sie oder andere irgendwann und irgendwo gehört und aufgezeichnet haben. Sie suchte das Echte und Tradierte. Mit der Friedensbewegung und ihren Folksongs der 60er-Jahre konnte sie wenig anfangen.
"Es gab die linke Friedensbewegung in der Folkszene. Daran war ich nicht interessiert. Was ich wollte, war zu den älteren Liedern, die meine Vorfahren gesungen haben, zurückzukehren."
Diese Lieder handeln von den Untiefen des Menschen, auch von Gewalt, Rache und Mordlust. In "Cruel Lincoln" geht es um einen grausamen Maurer mit dem Namen Lincoln, der für seine Arbeit nicht bezahlt wurde und sich furchtbar rächte.
Blut in der Küche und im Flur, und die Dame des Hauses liegt blutüberströmt im Wohnzimmer. Für ihre Folkkarriere hat Shirley Collins den Orden "Member of the British Empire" erhalten. Über dem Sofa hängt die Urkunde im Bilderrahmen, mit der Originalunterschrift von Königin Elizabeth. Die sei ihr aber eigentlich zu steif, gesteht sie. Gottseidank habe sie den Orden von Prinz Charles bekommen.

Bob Dylan findet sie nicht so toll

Und noch einen anderen, jetzt durch einen Nobelpreis gekrönten Zeitgenossen findet sie nicht ganz so toll – Bob Dylan:
"Ich habe Bob Dylan getroffen, als er noch nicht berühmt war. Ich sang damals im Troubadour, einem Club in London. Dort trat auch Ramblin' Jack Elliott als Sänger aus den USA auf, der trug Cowboyhüte und hatte Stiefel an, jeder mochte ihn. Dann kam Bob Dylan Jahre später und jeder dachte, er kopiert nur Ramblin' Jack. Und als Dylan im Troubadour auftreten sollte, sang er ein paar Lieder, verschwand in der Toilette und kiffte sich den ganzen restlichen Abend zu."
Das Lied "Death and the Lady", "Der Tod und die Dame", reicht in die Zeit der Pest im 17. Jahrhundert zurück. Auch hier wurde ein Video mit Shirley Collins produziert. In einer Gruft unter einer Kirche in Kent singt sie – etwas gruselig - vor hunderten von Totenschädeln, die säuberlich im Regal übereinander aufgereiht sind. In einem Totenkopf liegt ein Vogelei, aus dem ein Küken schlüpft. Etwas kitschig? Eher echtes Landleben und echte Folkmusik mit Tradition und gesungen von der rauen Stimme einer 81-Jährigen.

Aus Liebeskummer die Stimme verloren

Mit Anfang 40 hatte Shirley Collins ihre Stimme verloren – aus Liebeskummer. Ihr zweiter Ehemann Ashley Hutchings hatte sie für eine Schauspielerin verlassen, aber sie standen noch zusammen mit der Albion Band auf der Bühne im National Theatre in London:
"Das Problem war, dass diese Schauspielerin jeden Abend sich direkt vor mich setzte, wenn ich singen wollte. Sie trug seine Pullover. Das brach mir das Herz. Ich versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Abend für Abend konnte ich manchmal singen, und manchmal ging es gar nicht."
London-Korrespondent Friedbert Meurer sitzt mit der 81-jährigen englischen Folkmusikerin Shirley Collins in ihrem Haus in Lewes auf dem Sofa.
Eine seltene Gelegenheit: London-Korrespondent Friedbert Meurer zu Besuch bei der englischen Folk-Legende Shirley Collins in ihrem Haus in Lewes.© Deutschlandradio / Friedbert Meurer
Shirley Collins hat deswegen auch ihr neues Album nach jahrzehntelanger musikalischer Abstinenz zu Hause in ihrem Reihenhaus aufgenommen und nicht im Studio – dort hätte sie sich nicht wohlgefühlt. Sie wirkt selbst erstaunt, dass man sich wieder für ihre Musik interessiert, obwohl ihre Stimme jetzt eben die einer 81-Jährigen ist.
Ihrem Wiederentdecker David Tibet, der in den 80er-Jahren den Neo-Folk begründete, ist sie umso dankbarer:
"Ich sagte zu ihm, ich dachte, man hat mich vergessen. Ich brach in Tränen aus. Wir wurden Freunde – und dann hat er mich überredet, wieder zu singen."
Mehr zum Thema