Sexueller Kindesmissbrauch

"Seine Verurteilung war für mich ein Freispruch"

Tamara Luding
Erstmals wird in einem Hearing Kindesmissbrauch aufgearbeitet. Die Opfer leiden ein Leben lang unter den Folgen der Übergriffe. © dpa
Von Christiane Habermalz · 31.01.2017
In Berlin hat das erste öffentliche Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stattgefunden. Auch wenn den Betroffenen der Auftritt schwer fällt: Sie wollen reden, weil sie jahrelang niemand hören wollte.
"Sexuelle Übergriffe sind in meinem Leben schon ab dem zweiten Lebensjahr passiert. Allerdings nicht durch meinen Vater. Er wurde Täter als ich ca. 13 Jahre alt war. Danach sind wir in eine ganz schöne Gegend von Duisburg gezogen. Aus dem Ruhrpott komme ich. Wo man eigentlich denken müsste, das Leben ist dort schön, wir hatten ein Haus und nach außen gesehen sah auch alles ganz nett aus. Neben uns hat die Polizei gewohnt! Es war das Horrorhaus. Damit fing also unsere Horrorgeschichte an!"
Das erste öffentliche Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs findet in einem lichtdurchfluteten Raum in der Akademie der Künste in Berlin statt. Er soll Transparenz und Offenheit ausstrahlen. Für die Betroffenen ist es dennoch sehr schwer zu sprechen über das, was ihnen widerfahren ist.
Dabei wollen sie reden, die die heute gekommen sind. Denn jahrelang bestand ihr größtes Problem darin, dass sie niemand hören wollte. Tamara Luding wurde als Kind neun Jahre lang von ihrem Stiefbruder missbraucht. Ihren Eltern gegenüber hat sie hat immer wieder Signale ausgesendet, erzählt sie heute:
"So wie Kinder das immer tun. Kennen Sie vielleicht von sich selbst, wenn Sie was angestellt haben, und man sagt sich ich zähl jetzt bis drei und dann sag ichs! Ja, so war das bei mir auch. Das ging dann eins, zwei, drei… vier, fünf, sechs… Mist! Zeit vorbei!"

"Ich weiß heute, meine Mutter hat weggeschaut"

"Zu sehen wie hilflos ich war, und wie wenig mir meine Mutter geholfen hat. Das war auch ganz schlimm. Weil ich weiß heute, sie hat weggeschaut, sie hat nicht hingeschaut."
Tamara Luding, Mitglied Betroffenenrat und ständiger Gast in der Unabhängigen Kommission, bei der Auftaktpressekonferenz der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Tamara Luding, Mitglied Betroffenenrat und ständiger Gast in der Unabhängigen Kommission, bei der Auftaktpressekonferenz der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.© imago/Metodi Popow
Bewusst hat die Kommission daher Kindesmissbrauch im familiären Kontext zum Gegenstand ihres ersten öffentlichen Hearings gemacht. Weitere werden folgen - noch in diesem Jahr soll es ein weiteres zum Thema Missbrauch in der DDR geben. Doch der Tatort Familie ist der, an dem Kinder am häufigsten zum Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Und zugleich derjenige, an dem Aufarbeitung am schwierigsten ist, betont Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen:
"Ich denke gerade die Familie als derjenige Ort, von dem die meisten ausgehen, dass Kinder dort geschützt werden sollen, geliebt werden sollen, macht besonders deutlich, dass wenn das nicht der Fall ist und sie von Gewalt betroffen sind, wie verletzlich Kinder sind und wie angewiesen darauf, dass ihnen geholfen wird."
Genau das aber geschieht immer noch viel zu selten. Die meisten brauchen Jahre, Jahrzehnte, bis sie sich jemandem mitteilen können. Seit knapp einem Jahr führt die Kommission bereits vertrauliche Anhörungen mit Betroffenen durch. 600 haben sich gemeldet und wurden zu Gesprächen eingeladen, etwa hundert haben schriftliche Berichte eingereicht.

Viele leiden ihr Leben lang an den Spätfolgen

Die Unabhängige Kommission war im Januar 2016 berufen worden - eine zentrale Forderung des Runden Tisches zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch, um Ausmaß, Art und Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aufzuzeigen. Um systematisch gesellschaftliche Strukturen aufzudecken, die zu Missbrauch führen, fehle der Kommission jedoch die gesetzliche Grundlage, bedauerte Kommissionsmitglied Jens Brachmann:
"Dass wir nicht mühsam uns durch Datenschutz- und Schutzfristverkürzungsanträge zunächst durcharbeiten müssen, bevor wir entsprechende Aktenmaterialien einsehen können. Denn wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, es ist in der Tat hilfreich und sinnvoll, die Aussagen der Betroffenen auf eine valide Grundalge dadurch zu stellen, dass wir uns etwa Organisationsstrukturen anschauen können, Aktenmaterial einsehen können etc."
Viele Betroffene leiden ihr Leben lang an den Spätfolgen der Tat, hangeln sich von Therapie zu Therapie. Zur Verurteilung der Täter kommt es selten. Entweder weil die Taten verjährt sind, oder weil die Opfer selber keine Anzeige wollen. Doch es gibt auch Hilfe. Und manchmal auch späte Genugtuung, sagt Tamara Luding. Ihr Stiefbruder wurde von ihrer Schwester angezeigt, als sie 23 Jahre alt war:
"Der Moment, wo mein Täter verurteilt worden ist, war für mich ein Freispruch! Ganz viele Betroffene haben Schuldgefühle und denken, sie haben irgendwie dazu beigetragen, dass diese Tat möglich war. Ich bin in sein Zimmer gegangen zum Beispiel. Oder, ich habe mich nicht gut genug versteckt. Oder ich war zu laut, vielleicht mal wieder. Und in dem Moment, in dem mein Täter aber verurteilt worden ist, war es klar: Ich bin nicht schuld!"
(mcz)
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