Sexuelle Revolution

"Wer zweimal mit derselben pennt ..."

"Zur Sache Schätzchen"
Hauptdarsteller Werner Enke mit Uschi Glas (r.) und Regisseurin May Spils bei Dreharbeiten zu einer Bettszene für den Film "Zur Sache Schätzchen" im August 1967. © picture alliance/dpa/Foto: Brix
Von Anke Schaefer · 07.06.2018
1968 begann die alte moralische Ordnung in Deutschland zu zerbrechen: Nie zuvor wurden die Partner so munter gewechselt. Doch in der "sexuellen Befreiung" steckte ein neuer Zwang − Frauen sollten den Männern immer zur Verfügung zu stehen.
"Die Welt stand uns ja offen. Man fuhr irgendwo hin, kannte niemanden, das war kein Problem, irgendjemand fragte, wollt ihr bei uns schlafen?"
"Das ganze Leben war sehr viel unreglementierter, man brauchte sehr viel weniger Geld. Es war nicht in dem Maße kommerzialisiert. Das Vertrauen war groß, das man in die anderen hatte, die man ja erkannte, vom Outfit her und wie sie sich unterhielten und was sie für Musik hörten, da wusste man ja sofort Bescheid! Also ich habe nie eine schlechte Erfahrung gemacht."
Beate Passow war 1968 Studentin an der Kunstakademie in München. Geboren 1945 geboren als Tochter einer Polin und eines Deutschen.
"Es fing ja mit der Musik, mit Elvis an. So der Aufbruch der Jugend. Und 'Make Love not War' das war so ein Motto gegen die Eltern. Und das konnten wir und durften wir und haben wir einfach ausgelebt."

Gegen den Geist der Nachkriegszeit

Gegen die Eltern, das hieß: nicht nur gegen die Eltern und deren Nazi-Geschichte, sondern auch gegen den Geist der Nachkriegszeit, der Adenauer-Zeit mit ihren rigiden Moralvorstellungen. Der Bundesgerichtshof – 1961:
"Die moralische Ordnung fordert, dass körperliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundsätzlich sich nur in monogamen Ehen vollziehen, da der Zweck und Ergebnis dieser Beziehung das Kind ist."
"Es war einfach Aufbruch. Wir hatten die Pille. Plötzlich konnte man selber entscheiden. 50 Prozent der Menschheit, zumindest in unseren Breiten, war befreit von dieser Angst, unfreiwillig schwanger zu werden. Und das rief ein wunderbares Gefühl hervor. An Selbstbestimmung. Und ohne Pille wäre das nicht denkbar gewesen."
Im Film-Trailer von "Zur Sache Schätzchen" hieß es:
"Zur Sache, Schätzchen /
mach’ keine Mätzchen /
komm’ ins Bettchen /
rauchen wir noch’n Zigarettchen."
1968 erodiert die alte Ordnung. "Zur Sache Schätzchen": Uschi Glas stiftet Verwirrung auf dem Polizeirevier, indem sie sich vor den Ordnungshütern bis auf die Unterwäsche auszieht – und die Zuschauer lachen über die Polizei. Oswalt Kolle erklärt den Deutschen "Das Wunder der Liebe" – ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft:
"Ich war zu dem Zeitpunkt schon verheiratet und ich hatte auch den Sohn. Aber das änderte nichts an dem Leben, das wir führten. Das bedeutete, dass man irgendwann anfing mit wechselnden Männerbeziehungen. Wobei es für uns natürlich ein wunderbares Aufbruchsgefühl war, zu bestimmen, wozu man Lust hatte."
"Ich kenne eigentlich niemand aus der Zeit, bei dem das anders gewesen ist."
Zumindest nicht in den Kreisen, in denen Beate Passow in München verkehrte. Sie gehörte ja damals zu einer kleinen Minderheit. Die meisten jungen Erwachsenen lebten noch nach alter Sitte. Noch.

Treue, Untreue, Bindungen

"Ich bin in einer sehr konservativen Familie aufgewachsen und da habe ich diese Zeit als sehr befremdlich erlebt."
Sagt der österreichische Paar-Therapeut Hans Jellouschek, der in seinen Büchern über Treue und Untreue reflektiert, über das Bedürfnis nach Bindung und nach Autonomie.
"Das war auch etwas sehr Wichtiges, um aus der Enge rauszukommen und auch zu sich selber zu finden! Autonomie! Und das ist sicherlich davor in den strengen Gesetzen, die durch die Kirche und die gesellschaftliche Konvention gegeben waren, einfach zu kurz gekommen."

Autonomie, Befreiung von erstarrten gesellschaftlichen Konventionen. Nie zuvor wurde so viel gevögelt in Deutschland, nie zuvor wurden die Partner so munter gewechselt. "Fickt euch frei": die sexuelle Revolution als klassenkämpferischer Akt. Nicht nur der alte Theoretiker Karl Marx erlebte eine ungeahnte Renaissance, sondern ebenso sehr Wilhelm Reich.
"Die Funktion des Orgasmus"
1927 veröffentlicht. In den 60er-Jahren wiederentdeckt.
"Die Massenpsychologie des Faschismus", "Die Sexualität im Kulturkampf".
Der österreichische Psychoanalytiker Wilhelm Reich 
Der österreichische Psychoanalytiker Wilhelm Reich ("Die Sexualität im Kulturkampf") 1935 in Oslo.© picture alliance/dpa/Foto: UPI
Wilhelm Reich lieferte den theoretischen Überbau für die Entfesselung der Sexualität – die Theorie, dass der sexuell unterdrückte Mensch anfällig sei für den Faschismus. Wenn sexuelle Unterdrückung die Menschen anfällig macht für den Faschismus: Was lag näher, als den Faschismus zu überwinden, indem man die menschliche Begierde von kulturellen und normativen Fesseln befreit, auf dass man – frau – nach Lust und Laune miteinander ins Bett geht?!
"Der Lebens- und sexualverneinend erzogene Mensch erwirbt eine Lustangst, die physiologisch in chronischen Muskelspannungen verankert ist. Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründeten Weltanschauung durch den Menschen selbst. Sie ist der Kern der Angst vor selbstständiger freiheitlicher Lebensführung."
Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus.

Adressaten waren Heterosexuelle

Die Adressaten der 68er Befreiung des "sexualverneinend erzogenen Menschen" waren selbstverständlich Heterosexuelle. Das Tabu Homosexualität war noch lange nicht gebrochen. Und auch die Beziehung der Geschlechter untereinander noch nicht reflektiert. "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment": der berühmt gewordene Spruch hieß nicht: "Wer zweimal mit demselben pennt". Aber das sollte sich ändern – spätestens, seitdem im September 1968 eine Studentin die Männer am Vorstandstisch des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes mit Tomaten bewarf.
Sexuelle Freiheit war nicht mehr nur dem Mann vorbehalten. Was natürlich Konsequenzen für die Partnerschaft hatte.
"Ich hatte dann irgendwann immer eine feste Beziehung und mein Mann und die Beziehung, die sind zusammen in den Atzinger gegangen und haben da Bier getrunken."
Freie Liebe. Beate Passows Mann und ihr Lover sitzen in München im Atzinger und gehen nicht aufeinander los, sondern pflegen freundschaftlichen Kontakt.
Zur selben Zeit entschied sich Frank Ritter für die freie Liebe in Berlin, er zog eine Kommune, eine Dependance der Otto-Mühl-Kommune, die einen radikalen Ansatz von freier Liebe propagierte. Mühls Credo: alles gesellschaftliche Übel resultiert aus der Zweierbeziehung, weshalb man sie verbieten muss. Das hieß: Jede Nacht mit einer anderen Frau ins Bett gehen.
"Natürlich hatte die Kommune positive Aspekte. Ich bin tatsächlich zu einem uneifersüchtigen Menschen geworden. Ich habe keine Eifersucht mehr! Also, meine Frau, die mir sehr treu ist, übrigens, aber sagen wir mal, sie würde fremd gehen – ich glaube nicht, dass ich da jetzt ausrasten würde."
"Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment"


Auch in dem 68er Slogan steckte schon ein Zwang. Ehe und Treue waren als bürgerlich abzulehnen. Wer aus der Welt der alten Zwänge austrat, um ins Reich der freien Liebe einzutreten, landete nicht in einer Welt, in der alle freier und unbeschwerter lebten. Gretchen Dutschke-Klotz, Rudi Dutschkes Frau, erinnerte sich 2008 in einem Interview in der EMMA:
"Ich hatte (..) schon ein Problem bei der Vorstellung, mit allen Männern schlafen zu müssen. Noch schwieriger fand ich jedoch die Vorstellung, was man mit den Leuten machen sollte, mit denen niemand schlafen wollte."
Ihr Fazit:
"Letztendlich sollte freie Sexualität bedeuten, dass die Frauen den Männern immer zur Verfügung standen."
"Ich weiß nicht, ob man als Frau freier wurde. Es wurde die ganze Verantwortung auf die Frau übertragen."
Sagt Doris Zölls, Zenmeisterin am Benediktushof, verheiratet, vier Kinder.
Studentenführer Rudi Dutschke 
Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke (M) und seine Ehefrau Gretchen (l) bei einer Demonstration. Undatierte Aufnahme.© picture alliance/dpa/Foto: Rapp
"Die Antibabypille ist für mich noch nicht ein Befreiungsschlag der Frau. Es ist ein Befreiungsschlag der Sexualität, aber es ist alles auf Kosten der Frauen."
So befreiend der 68er Ausbruch aus den Fesseln alter Konventionen war: der Traum von der freien Liebe war schöner als die Wirklichkeit. Paartherapeut Hans Jellouschek sagt sogar:
"Die freie Liebe bringt sehr viel Unglück."
Auf dem St. Johanner Markt in Saarbrücken sitzt Ralf Rousseau. 52 Jahre alt, Psychotherapeut und Qi Gong Lehrer. Wir profitieren heute vom Erbe der 68er, sagt er:
"Das Extreme mit den Kommunen, das hat alles viel geöffnet, viele Möglichkeiten geschaffen, die wir heute nutzen können, die wir nicht hätten, wenn es das nicht gegeben hätte. Z.B. wählen zu können, wie man es denn gerne habe möchte, das ist vielleicht die Chance!"

Polyamore Beziehungen im Heute

Freie Liebe – Freiheiten, die früher undenkbar waren: Wer will, kann heute auch in polyamoren Beziehungen leben, in aller Offenheit mit mehreren Partnern gleichzeitig. Ralf Rousseau will das nicht, er lebt seit einigen Jahren monogam in einer festen Beziehung.
"Ich war eigentlich in Realität meistens ziemlich treu. Immer. In meinen Fantasien allerdings meistens ziemlich untreu. Das hat sich in dem Sinne nicht verändert. In der Wirklichkeit bin ich tendenziell eigentlich fast immer ziemlich treu gewesen."
"Treue bringt insofern Glück, als Treue Intimität schafft. Weil ich weiß, immer wieder, dass der nur mich haben möchte und ich nur ihn haben möchte. Und das bleibt immer so ein Grundbedürfnis. Wirklich von jemandem anderen gewollt zu sein."
Vielleicht ist Treue heute nicht mehr zu vergleichen mit Treue vor 1968. Als der Bruch einer Ehe eine gesellschaftliche Katastrophe war, auch wenn der Ehealltag die Hölle war. Wenn sich heute auf Werbeplakaten an jeder Straßenecke alle elf Minuten ein Single verliebt, dann ist die Paarung Teil kommerzieller Strategien, Teil des kapitalistischen Konsums – und Treue läuft diesen Strategien zuwider, man könnte fast sagen: ist eine widerständige Haltung zur Konsumgesellschaft. Wenn Beate Passow auf die Gesellschaft der Gegenwart guckt und wenn sie die vergleicht mit damals, mit 1968.
"Ich glaube, dass jetzt dieses Modell, das jetzt da ist, dass man einen Partner hat, dem treu ist und dann wartet, bis man sich wieder getrennt hat und wieder einen nächsten hat, das ist vielleicht dem Menschen gemäßer, ich weiß es nicht. Schöner war es anders!"
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