Sexualisierte Gewalt

Heilung und Hilfe im Teufelskreis

Die bischöfliche Fahne weht vor Beginn der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vor dem Fuldaer Dom.
Die bischöfliche Fahne weht vor Beginn der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vor dem Fuldaer Dom. © dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
Hildegund Keul im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 06.03.2016
Die katholische Theologin Hildegund Keul leitet die Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Sexualisierte Gewalt sei ein Thema, "das natürlich die katholische Kirche angeht" − sie könne den Betroffenen mit Spiritualität, Gesprächen und Ritualen beistehen.
Kirsten Dietrich: Seit 2010 wird in Deutschland über die sexualisierte Gewalt geredet, die Kindern in Einrichtungen der katholischen Kirche angetan wurde, seit der Missbrauch an Schülern des Berliner Canisius-Kollegs öffentlich wurde. Am Sonntag ging in Hollywood der Oscar für den besten Film an "Spotlight", einen Film, der präzise nachzeichnet, wie einige Jahre vorher, im Jahr 2001, Journalisten die systematische Vertuschung von Kindesmissbrauch durch Priester im Erzbistum Boston aufdeckten. Das Thema sexualisierte Gewalt bleibt aktuell in der katholischen Kirche, doch es kommen neue Aspekte bei der Auseinandersetzung dazu. So zum Beispiel die Frage danach, ob und welchen Beitrag Glauben und Spiritualität dabei leisten können, auch mit Missbrauchserfahrungen weiter leben zu können.
Die katholische Theologin Hildegund Keul leitet die Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Sie schreibt und denkt nach über die theologischen und spirituellen Konsequenzen der Missbrauchsdebatte, war deswegen zum Beispiel in dieser Woche bei einer Fortbildung für diejenigen dabei, die in katholischen Bistümern solchen Missbrauch künftig verhindern sollen. Ich habe mit Hildegund Keul gesprochen und sie gefragt, wo ihr das Thema Missbrauch in ihrer Arbeit für Frauen in der Kirche begegnet.
Hildegund Keul: Die Frauenseelsorge ist durchaus mit dem Thema stark verbunden. Ich muss sagen leider, weil es einfach viele Frauen gibt, die Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind und immer noch werden. Das ist ein Thema, das natürlich die katholische Kirche angeht. Mit ihr ist auch das Thema überhaupt gesellschaftlich so bedeutsam geworden, aber die meisten Opfer gibt es in Familien, auch in Sportverbänden, an Schulen ist das eine große Problematik, und die Frauenseelsorge hat es da mit dem ganzen Feld zu tun. Wenn Sie mich jetzt persönlich fragen, ich bin das erste Mal in den 80er-Jahren schon mit dem Thema in Berührung gekommen. Da war ich in der Theologie aktiv als Studentin, dann habe ich promoviert.
In der Zeit hatten wir eine sehr starke Theologinnengruppe, und wir haben da mit "Wildwasser" zusammen kooperiert und haben versucht, das Thema sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen auch wirklich an der Fakultät zum Thema zu machen. Da gab es große Veranstaltungen, und seitdem – wissen Sie, wenn man da einmal drin ist in dem Thema, dann begegnet einem das auch immer wieder. Dann hat man so eine Sensibilität auch dafür. Ich habe dann einmal eine Frau begleitet, die in der Ausbildung bei mir, da war ich Dozentin ... Die Frau hat einfach einen sehr starken Missbrauch von einem Pfarrer erfahren, ein ganz furchtbarer Missbrauch. Ich habe sie begleitet, so gut ich das konnte. Damals gab es auch noch keine professionelle Ausbildung dafür so richtig, jedenfalls hatte ich die nicht, kannte mich auch nicht aus, aber ich habe mein Bestes gegeben. Sie hat dann zum Schluss gesagt, sie würde ganz gerne zum Spiritual gehen, das ist der geistliche Begleiter, und diesen Prozess der Aufarbeitung für sie selbst persönlich mit einer Beichte abschließen.

Segensritual oder Beichte?

Dietrich: Erstaunlich eigentlich, nach diesen Erfahrungen dann trotzdem noch das Vertrauen in die Institution Kirche zu haben.
Keul: Ja. Sie hat hier auch eine Ausbildung gemacht als kirchliche Mitarbeiterin. Das ist auch der Punkt: Man ringt ja mit dem Glauben, das bringt der tolle Film "Spotlight" auch sehr gut zum Ausdruck. Man ringt mit Gott, man ringt mit dem Glauben, und man will es zurückgewinnen. Diese Frau hat dann zum Schluss gesagt, dass sie die Beichte möchte, und das war für diese Frau bestimmt gut. Es muss auch jede betroffene Frau, jeder betroffene Mann selbst wissen, was für mich jetzt richtig ist. Ich hatte nur den Eindruck, eigentlich wäre es doch viel besser, wir hätten ein anderes Ritual, eine Möglichkeit, Heilung anzubieten in einem kleinen Segensritual, denn Beichte, da hat es auch mit Schuld zu tun, und für Betroffene ist es ja nicht eine Frage eigener Schuld. Deswegen fand ich jetzt die Beichte dafür nicht geeignet. Das reißt die Frage auf, die wir jetzt im Moment haben: Welche spirituelle Ressourcen haben wir, können wir in einem guten Sinn Rituale entwickeln und Menschen anbieten, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind.
Dietrich: Sie haben gerade schon den Film "Spotlight" angesprochen. Ich fand besonders beeindruckend die Stelle, wo es darum ging, dass sexualisierte Gewalt durch Vertreter der Kirche nicht nur eine körperliche Verletzung sind, eine körperliche Gewalterfahrung, sondern auch eine spirituelle Gewalterfahrung, weil es durch den Priester … Es ist, als ob Gott in diese Gewalt mit hinein verwickelt ist. Haben Sie das auch so gesehen, diese ganz grundsätzliche Anfrage, die auch auf die Institution dann verweist?
Keul: Ja. Die Schwierigkeit besteht darin, dass, wenn man Gewalt erfährt, dann besteht immer die Gefahr, dass man in einen Teufelskreis von Gewalt reinkommt. Man erfährt zum Beispiel körperliche Gewalt, aber das greift auf die Seele auch zu, das greift – in dem Fall von Missbrauch durch Priester – auch auf die Spiritualität zu. Das Problematische bei Gewalt ist, die frisst sich durch das ganze Leben durch. Sexualisierte Gewalt ist auch etwas, was wirklich den ganzen Menschen betrifft, ich würde sogar fast sagen, das ist etwas Absolutes irgendwie. Die Gefahr besteht, und das ist das, was ich unsägliche Macht nenne, die Gewalt ausübt, dass sie das ganze Leben in den Griff zu bekommen versucht. Die frisst sich durch das Leben.
Das Problem ist, dass das, was mir Heilung bringen könnte, dass das Ressourcen sind, die mir gerade in dieser Gewaltspirale verschlossen werden. Ich nenne mal ein Beispiel: Wenn ich sexualisierte Gewalt erfahren habe, das, was mir Heilung schenken könnte, das wäre eine intensive Liebesbeziehung, eine erotische, wo ich wirklich das Leben wieder spüre, wo ich meinen Geist, meine Seele, meinen Körper spüre, wo ich ganz und gar präsent bin, aber Opfer von sexualisierter Gewalt haben oft ganz große Schwierigkeiten, wirklich eine erotische Beziehung einzugehen, weil sie wissen, dass sie an der Stelle verwundbar sind.

Den Trigger nicht wiederholen

Dietrich: Das ist jetzt aber bei sexualisierter Gewalt, die von Vertretern der Kirche, also sprich von Priestern ausgeübt wurde, nicht die zusätzliche Schwierigkeit, dass mir diese Heilungsquelle nicht nur verschlossen ist, sondern dass diese Heilung angeboten wird aus genau dieser Quelle, aus der mir auch die Gewalt angetan wurde.
Keul: Genau, da haben Sie dasselbe. Ich glaube, dass spirituelle Ressourcen eigentlich helfen können, um aus einer Situation von Missbrauch rauszukommen, damit ich mit diesen unsäglichen Machtwirkungen umgehen kann, wenn aber jemand, der für die Spiritualität eigentlich stehen müsste, mich verletzt hat, dann habe ich Schwierigkeiten, diese spirituelle Ressource überhaupt in Anspruch zu nehmen. Es gibt ein neues Buch zu dem Thema, das heißt "Damit der Boden wieder trägt: Seelsorge nach sexuellem Missbrauch", das ist von Erika Kerstner und anderen herausgegeben, und die Frauen arbeiten sehr stark mit betroffenen Frauen zusammen, und die sagen, eigentlich bräuchten wir von der Kirche spirituelle Angebote, Möglichkeiten der Heilung, aber wir fühlen uns immer noch ausgegrenzt. Ich glaube, das zeigt diese Problematik. Es ist verschlossen, und wir sind in der Kirche noch nicht weit genug. Das sagen wir auch ganz ehrlich. Wir möchten natürlich noch viel weiterkommen in der Entwicklung, was wir für Möglichkeiten haben, auch unsere spirituellen Ressourcen zu nutzen und auch anzubieten. Da haben wir noch eine ganz weite Wegstrecke vor uns.
Dietrich: Wie könnten denn, jetzt als erster Schritt auf dieser Wegstrecke, solche Rituale aussehen? Müsste man da nicht auch ganz andere Menschen haben, die diese Rituale vollziehen, zum Beispiel, ganz andere Gemeinschaftsformen?
Keul: Das erste, was dabei wichtig ist, ist, glaube ich, dass erst wirklich mit den Menschen, die betroffen sind, ganz stark zusammenzuarbeiten. Nicht nur sich Konzepte zu überlegen am grünen Tisch, das funktioniert nicht, sondern mit denen zusammen, weil das auch immer sehr konkret ist. Man muss bei diesem Konkreten ansetzen. Zum Beispiel, es gibt auch immer so Auslöser, die zurückführen in das Trauma, und da muss ich wissen, was ist das für ein Auslöser, was für ein Trigger. Ich muss wissen, was ist das eigentlich, damit das nicht in einem Heilungsritual auch noch verstärkt wird, in dem der Trigger vorkommt. Das heißt, man muss mit dem Menschen ganz eng zusammenarbeiten.

Nicht mehr nur Opfer sein

Zugleich glaube ich aber, dass Rituale sehr hilfreich sein können, um einen solchen Prozess – ich habe mich jetzt damit auseinandergesetzt auf den verschiedenen Ebenen, ich habe eine gute Begleitung gehabt, und jetzt denke ich, ich muss den Prozess jetzt auch mal abschließen, jetzt will ich noch mal neu durchstarten, ich weiß, ich bin viktimisiert worden, aber ich bin nicht mehr einfach nur Opfer, ich bin was ganz anderes, und ich möchte neu durchstarten – dann ist das sehr hilfreich, das weiß ich aus der Religionswissenschaft, Rituale können genau das. Ich glaube, wir sind als Kirche – gerade, weil der Missbrauch innerhalb der Kirche so stark war und weil er so viel auch auf der Führungsebene vertuscht worden ist – wirklich in der Pflicht, da dran zu gehen und miteinander zu schauen, wie wir spirituelle Angebote machen können.
Dietrich: Die Pflicht, die kann ich gut verstehen und auch diesen Gedanken, dass diese Rituale helfen können. Die Frage, die sich mir jetzt stellt, ist nur, ist die katholische Kirche wirklich schon so weit, wirklich konstruktiv nach vorne zu schauen und Heilung anzubieten? Ist der Blick zurück nicht immer noch wichtig? Ist wirklich so viel aufgearbeitet worden, dass man schon sagen kann, okay, wir wissen jetzt, wo überall Schuld verübt worden ist, und wir haben das soweit aufgearbeitet, dass wir jetzt wirklich befreit zusammen mit den Opfern dieser Gewalt nach vorne schauen können?
Keul: Wenn es ein Entweder-oder wäre, dann würde ich auch sagen, das geht noch nicht, aber ich glaube, das ist nicht ein Nacheinander, sondern das läuft gleichzeitig. Zum Beispiel, wenn betroffene Menschen zu unseren Missbrauchsbeauftragten kommen, dann haben die auch einen Prozess, den die da eingehen, und es ist tatsächlich so, dass es Situationen gibt, wo Missbrauchsbeauftragte oft den Eindruck haben: Gibt es noch irgendwas, was ich für Sie tun kann? Da hat man so eine Situation, da kann man auch nicht sagen, wissen Sie, Sie können jetzt in 15 Jahren noch mal kommen, wenn wir das Ganze aufgearbeitet haben, sondern diese Unterstützung wäre vielleicht jetzt notwendig. Aber das darf keine Ausrede sein, bei Aufarbeitung jetzt nachlässig zu werden. Das wäre ganz fatal, das würde auch nicht funktionieren, sondern wir müssen beides tun. Ich glaube, wir sind jetzt im sechsten Jahr der Aufarbeitung, jetzt sind wir in der Situation, dass wir tatsächlich auch solche Fragen überhaupt mal erst stellen können. Wir hatten die Woche eine Fachtagung zum Thema Prävention und die Frage nach Spiritualität. Ich glaube schon, dass sich im Moment etwas verändert und wir uns dieser Frage noch mal neu öffnen können.
Dietrich: Das ist eine ganz merkwürdige Form von Gleichzeitigkeit.
Keul: Ja, das stimmt, genau.
Dietrich: Auf der einen Seite dieser Blick nach vorne, dieser Blick auf Prävention, auf der anderen Seite zum Beispiel gerade die Verhöre von Kardinal Pell zum Thema Missbrauch in der australischen Kirche, wo man denkt, so richtig viel Einsichtsfähigkeit darein, dass da eben auch Strukturen, dass da eben auch die Leitungsebene schuldig geworden ist, finde ich da gar nicht. Wie lässt sich damit leben und arbeiten?
Keul: Ich glaube, so große Institutionen wie die katholische Kirche, da hat man immer alles Mögliche, was gleichzeitig ist. Man hat auch Dinge, wo man sagt, so geht es nicht. Innerhalb der katholischen Kirche, zum Beispiel Bischoff Doktor Ackermann, der bei uns in der katholischen Kirche in Deutschland dafür verantwortlich ist, der macht wirklich einen ganz hervorragenden Job. Die Präventionsarbeit in den letzten Jahren, die hat wirklich ganz hervorragend gearbeitet. Mittlerweile zum Beispiel im Erzbistum Hamburg, da ist die Präventionsarbeit so gut geleistet, da ist so viel gemacht worden, dass mittlerweile säkulare Institutionen wie Schulen kommen und sagen, wie macht ihr das eigentlich mit der Prävention. Die haben die Schulung, Fragen von Prävention, auf allen Ebenen so institutionalisiert, dass die Leute alle geschult sind, die in dem kirchlichen Dienst arbeiten, die mit Kindern zu tun haben. Ich glaube, mittlerweile sind wir da in Fragen der Prävention Vorreiterin.
Dietrich: Hildegund Keul war das, die Leiterin der Katholischen Frauenseelsorge.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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