Sex als Waffe, Vergewaltigung als Strategie

Von Susanne von Schenck · 05.05.2013
Während einer Recherche in Libyen erfährt die französische Journalistin Annick Cojean von der gezielten Verschleppung und Vergewaltigung junger Frauen (und Männer). Sie erforscht daraufhin, wie ein ganzer Staat auf das "System Gaddafi" aufgebaut werden konnte.
Annick Cojean ist eine zierliche, lebhafte Frau. Die Journalistin, grand reporter der Tageszeitung "Le Monde", hat für ihre Arbeit vor einigen Jahren den Albert Londres Preis, die höchste journalistische Auszeichnung Frankreichs, erhalten. Als sie im Oktober 2011 nach Libyen reist, möchte sie für ein Thema recherchieren: die Rolle der Frauen während der Revolution. Stutzig wird sie, als ihr mehrere Frauen andeuten, sie hätten mit Gaddafi noch eine Rechnung offen. Schnell begreift sie: Es geht um Vergewaltigung. Als sie jedoch Genaueres erfahren möchte, stößt sie auf Angst und Schweigen.

"Es ist ein totales Tabu. Die Gesellschaft ist traditionell und archaisch. Männer wollen nicht über Vergewaltigung reden, Frauen dürfen es nicht. Denn sie riskieren damit ihr Leben."

Eine geht das Risiko ein und spricht. Soraya ist gerade 15 Jahre alt, als Gaddafi die ahnungslose Schülerin in seinen Palast verschleppen lässt. Die Eltern sind machtlos. "Wer würde in der Hölle Anklage gegen den Teufel erheben", heißt es im Buch. Soraya muss dem sexbesessenen "Papa Muammar", wie ihn alle nennen, zu Diensten sein – genauso wie ungezählte andere. Vergewaltigungen, Misshandlungen, Demütigungen sind an der Tagesordnung.

"Nie werde ich das vergessen. Er hat meinen Körper geschändet, und meine Seele hat er mit einem Dolch durchbohrt. Die Klinge ist niemals wieder herausgekommen. Ich war wie ausgelöscht, hatte keine Kraft mehr, ich bewegte mich nicht einmal mehr, ich weinte."

Soraya ist heute 23 Jahre alt. Ihr Leben ist zerstört, vor ihrer Familie muss sie sich verstecken, eine Zukunft kann sie sich nicht vorstellen. Ihr detailreicher, in einfacher, manchmal drastischer Sprache gehaltener Bericht ist Ausgangspunkt von Annick Cojeans Recherche und macht die Hälfte des Buches aus. Er sei, so die Autorin, ein historisches und politisches Zeugnis aus einem Land des Schweigens.

Allerdings: Kürzungen hätten nicht geschadet. So viele, zuweilen voyeuristisch anmutende Sexschilderungen will man gar nicht lesen. Das eigentlich Interessante an dem Buch "Und niemand hört mein Schreien" ist der zweite Teil, die Recherche Annick Cojeans. Langsam und beharrlich tastet sie sich an das heran, was sie das "System Gaddafi" nennt: Sex als Waffe, Vergewaltigung als Strategie. Sorayas Geschichte ist da leider kein Einzelfall.

"Soraya erlebt in den Kellern Gaddafis eine grässliche Geschichte. Aber zugleich steckt ein ganzes System dahinter. Ein ganzes Land kollaboriert mit dieser Versklavung der Frauen, auch mancher Männer, denn die benutzte Gaddafi ebenso. Ich wollte wissen, wie ein ganzer Staatsapparat sich organisiert, um die wahnsinnigen Gelüste eines allmächtigen Führers zu befriedigen. Und wie herrscht einer mit Sex als Druckmittel, als Sanktion, als Beförderung und Demütigung, auch seinen Gegnern gegenüber."

Models, Schauspielerinnen, Gattinnen und Töchter von Ministern und afrikanischen Staatsoberhäuptern – Gaddafi machte vor niemandem Halt. War eine Frau nicht willig, ließ er deren Familie bedrohen, degradierte Minister oder Generäle. Annick Cojean spürt ehemalige Leibwächterinnen, Soldaten, Komplizen und Verwandte Gaddafis auf, besucht Schulen und Gefängnisse.

Zwar gab sich Gaddafi als progressiv: In seiner Regierungszeit wurde die Polygamie abgeschafft, Mädchen durften Schulen und Universitäten besuchen und zur Armee gehen. Alles nur vorgetäuscht, meint Annick Cojean.

"Ich finde das erschreckend, denn es gab so viel Schweigen, Man wollte nicht genau wissen, was da eigentlich passierte. So als ob das, was mit den Frauen geschah, nicht so schlimm wäre, als ob ein Mann das Recht hätte 'Verführer' zu sein. Gaddafi war aber kein Verführer, er war kriminell. Die Frauen sind wirklich Opfer, und das muss man anzeigen wie die schwersten Verbrechen."

Annick Cojean will diesen Frauen Gehör verschaffen. Ihr Buch ist auch in Libyen erschienen.

Annick Cojean: Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis
Aufbau Verlag
19,99 Euro (auch als Ebook erhältlich)