Sergio Ramírez

Aufwind für die Literatur Mittelamerikas

Der Autor Sergio Ramírez
Der Autor Sergio Ramírez © AFP / Inti Ocon
Von Peter B. Schumann · 24.10.2014
In Mittelamerika, den sechs kleinen Ländern zwischen Nord- und Südamerika, haben sich sechs Verlage verbündet und bringen unter der Leitung von Sergio Ramírez eine Anthologie heraus: "Zwischen Süd und Nord. Neue Erzähler aus Mittelamerika".
Sergio Ramírez gilt längst als der wichtigste Promoter der kulturellen Integration Mittelamerikas. Bereits 1968 war er an dem ersten großen Gemeinschaftsprojekt beteiligt: der Gründung eines Zentralverlags. Danach mobilisierte er zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter die einzelnen Länder zum bis dahin größten grenzüberschreitenden Kulturfestival. Dann stürzte er sich in die Politik und engagierte sich für den Kampf gegen die Somoza-Diktatur in seinem Heimatland Nicaragua. Nach dem Sieg der sandinistischen Revolution war er in den 80er-Jahren Vizepräsident der ersten demokratisch gewählten Regierung. Seit dem Niedergang des Sandinismus in den 90er-Jahren hat er sich wieder auf die Kultur konzentriert und sich gefragt: "Wieso leben wir in Mittelamerika zwar zusammen, doch nur Rücken an Rücken?" Um den Separatismus zu überwinden, ist er wieder aktiv geworden.
Sergio Ramírez: "Ich habe die digitale Kulturzeitschrift Carátula ins Leben gerufen, die erstaunlicherweise von 25.000 Lesern frequentiert wird. Und letztes Jahr haben wir das internationale Schriftstellertreffen Mittelamerika erzählt in Nicaragua gegründet, zu dem nicht nur Autoren der Region eingeladen wurden, sondern auch aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Mexiko, Kolumbien und aus der Karibik. Vor allem jedoch jüngere mittelamerikanische Schriftsteller, denn sie sollen mit den anderen das Gespräch suchen. Wozu? Damit wir dieses 'Gefängnis Mittelamerika', wo wir wie unter Hausarrest stehen, hinter uns lassen."
Egoismus verschiedener Regierungen überwinden
Der Kulturaustausch zwischen den einzelnen Ländern stößt beispielsweise auf absurde Zollschranken. Die Landwege sind kompliziert und gefahrvoll. Der Versand von Büchern ins Nachbarland kostet hohe Ausfuhr- oder Einfuhrsteuern und manchmal auch beides. Noch nicht einmal ein Angebot der Europäischen Union zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit konnte den Egoismus verschiedener Regierungen überwinden und eine Zollunion bewirken. Deshalb werden viele Bücher auf kostengünstigen Schmugglerwegen versandt. Doch jetzt haben erstmals sechs kleine, unabhängige Verlage sich zur Gruppe GEICA zusammengeschlossen, um gemeinsame Wege der Publikation und des Vertriebs zu finden. Ein wichtiger Schritt, findet Sergio Ramírez:
"Die Kultur besitzt in unseren Ländern kein großes offizielles Ansehen. Die staatliche Unterstützung ist sehr gering. Deshalb ist jeder grenzüberschreitende Versuch, gemeinsam etwas zu unternehmen, außerordentlich wichtig. In Guatemala, Honduras oder Nicaragua glaubt man noch immer, Bücher zu publizieren sei etwas rein Kommerzielles. Deshalb ist die Initiative der Gruppe GEICA fast ein Kampf gegen Windmühlen. Niemand kann mit der Publikation von 500 oder 1.000 Exemplaren Poesie oder Erzählungen großen Profit machen. So etwas müsste eigentlich staatlich unterstützt werden."
Die Anthologie Zwischen Süd und Nord konnte nur erscheinen, weil die spanische Ausgabe größtenteils vom Goethe-Institut in Mexiko finanziert wurde. Sie ist das erste Gemeinschaftsprojekt von GEICA. Die deutsche Ausgabe ist soeben im Zürcher Unionsverlag herausgekommen, ebenfalls mit Hilfe von 'Goethe'. Sie enthält Erzählungen von 26 Schriftstellern der jüngeren Generation aus sechs Ländern und ermöglicht einen der seltenen Einblicke in die Literatur dieser Region.
"Ich wollte zeigen, was diese Generation schreibt und was für ein Bild sie sich von den gesellschaftlichen Problemen im Mittelamerika von heute macht. Ich glaube jedoch nicht, dass Literatur notwendigerweise nur solche Themen behandeln sollte, denn ich kann mir sehr wohl eine gute Literatur vorstellen, die damit gar nichts zu tun hat. Diese neue Generation beschäftigt sich aber vor allem mit der Realität: mit der erzwungenen Emigration, dem Drogenhandel, der Doppelmoral und der Korruption."
Hofft auf Veränderung durch Kultur
Zum ersten Mal hat Mittelamerika in diesem Jahr mit einem Gemeinschaftsstand an der Frankfurter Buchmesse teilgenommen. Die Reisen von Verlegern und Autoren nach Deutschland hat ebenfalls das Goethe-Institut ermöglicht. Solche Initiativen und die Aktivitäten von Sergio Ramírez haben der Literatur der Region Auftrieb gegeben. Dennoch bleibt viel zu tun: der gesamte literarische Bereich bedarf der Entwicklung.
"Wir brauchen Literatur-Werkstätten für die jüngsten Autoren. Ich glaube zwar nicht, dass jemand auf diese Weise wirklich schreiben lernen kann, aber er erhält wenigstens das Handwerkszeug, und er lernt Literatur richtig zu lesen. Kurse über die Publikation von Büchern sind auch äußerst wichtig, denn unsere Bücher müssen dringend attraktiver gemacht werden ... Immer entscheidender werden auch die digitalen Netzwerke. Die jungen Leute müssen lernen, wie sie sinnvoll mit Blog-Spots, Podcast, Literatur auf Video bei Youtube umgehen, denn das heißt literarische Kommunikation heutzutage. In einer Region, wo das Reisen von einem Land ins andere nicht so einfach ist, bietet das digitale Netz eine Lösung."
Es erleichtert auch ungemein die Verbreitung von literarischen Texten und Büchern in Ländern, in denen oft keine einzige öffentliche Bibliothek und nur wenige Buchhandlungen existieren. So kann die mittelamerikanische Literatur ihre Wirkung als bester Spiegel der gesellschaftlichen Realität noch effizienter entfalten.
"Es gibt einen roten Faden in der literarischen Tradition, und der zeigt sich in der Darstellung der soziopolitischen Wirklichkeit. Solange die Anormalität unserer gesellschaftlichen und politischen Situation andauert, solange wird sie diese gesellschaftlich engagierte Literatur hervorbringen. Wenn Mittelamerika eines Tages zu normalen Institutionen finden sollte, wenn Regierungserklärungen nicht mehr zu großen Konfrontationen führen, wenn Regierungen sich regelmäßig abwechseln, wenn die Regierenden Gerichtsurteile respektieren, wenn Wahlergebnisse keine traumatischen Folgen haben, wenn die Menschenrechte geachtet werden - dann wird die literarische Bedeutung dieser Realität an Gewicht verlieren."
Eine Normalisierung der politischen Verhältnisse sieht Sergio Ramírez vorläufig nicht. Er hofft auf Veränderung durch Kultur.

Zwischen Süd und Nord: Neue Erzähler aus Mittelamerika
Herausgegeben von Sergio Ramírez
Unionsverlag, Zürich 2014
256 Seiten, 19,95 Euro