Sensibel, spektakulär, biografisch

07.01.2008
Anlässlich des 65. Geburtstags Peter Handkes veröffentlicht der Suhrkamp Verlag das Buch "Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln". Auf über 600 Seiten geben Essays aus vier Jahrzehnten einen Überblick über das Leben und Schaffen des Autors.
Der Suhrkamp Verlag überreicht Peter Handke zum 65. Geburtstag ein fulminantes Geschenk. Dass ein Verlag seinem Autor in Buchform gratuliert und der Leser daran teilnehmen darf, gehört zu den imposanten Ritualen literarischer Unterhaltsamkeit. "Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln" enthält auf über 600 Seiten Essays des Autors aus vier Jahrzehnten. Spektakuläres, "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturmes", "Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA", und Sensibles, "Zu Franz Kafka", "Grabrede auf Hermann Lenz", "Der Verleger wird gebraucht", Biografisches, "Über Lieblingswörter", "Abschied des Träumers vom Neunten Land", und Aufklärendes, "Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen", stehen in nicht chronologischer Abfolge nebeneinander.

Die Texte erweisen sich als facettenreiche Zeitdokumente, denen es an künstlerischer, politischer und moralischer Substanz nicht mangelt. Dabei fällt auf, dass Handkes Wortmeldungen zum Krieg in Jugoslawien, worin er Serbien kompromisslos verteidigte, im Textganzen von marginaler Bedeutung sind. Durch das eingefügte Foto- und Bildmaterial wird sein großes Thema, die leidenschaftliche Erkundung äußerer und innerer Landschaften, reizvoll ergänzt. Man fühlt sich an ein altes Satzspiel Handkes erinnert. Eine Publikation von 1969 trägt den Titel "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" und beschäftigt sich mit der Behauptung, dass jeder Satz seine Geschichte hat. Da Handkes Essays auch, aber nicht nur Geschichten sind, sondern mehrere geschichtliche Zeiten in sich tragen, wird die Lektüre zum aufregenden Vergnügen.
"Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln" gliedert sich in neun Abschnitte. Man begegnet dem Kritiker, Übersetzer, Preisredner, Kunstbetrachter und fleißigen Kinogänger Handke. Dieses Ordnungsprinzip gibt eine Struktur vor, bei der man gut beraten ist, sie schnell zu ignorieren. Denn weder der Autor noch der Leser sollten derart in ein Korsett gezwängt werden. Peter Handke ist ein begnadeter Geschichtenerzähler und bewegt sich als leidenschaftlicher Geher nicht auf ausgetretenen Pfaden.

In seinen Essays probt er den aufrechten Gang als Geistes- und Schreibhaltung. Zwar markieren die "Ortstafeln" ein reales Umfeld, doch werden sie beim Erzählen zu Orten, die nur auf Handkes literarischem Atlas existieren. Im sensiblen Zugriff auf Namen, Städte und Landschaften zeigt sich, welche Landkarte skizziert werden soll.

Während es im "Kafka" - Essay von 1974 - um das Motiv der Scham geht, das in Kafkas Tagebüchern und Briefen in Räumen der Angst verortet wird, korrespondiert der Essay "Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las" mit Handkes Orts- und Zeittafeln. Zwei eigensinnige Topografen der deutschsprachigen Literatur treten sich in dem Gedanken gegenüber, "gegen die Wirklichkeit konstruiert zu sein".

Hatte der 1967 erst 25-jährige Autor bei Bernhard gelesen, dass die "Ortsnamen Köflach und Stiwoll" im Roman für Verstörtheit und Verzweiflung stehen, so verweist der Essay vier Jahrzehnte später nun auf Ortschaften, in denen die eigene Verstörung beredt wird.

Rezensiert von Carola Wiemers

Peter Handke: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln
Essays 1967-2007

Suhrkamp Verlag 2007, 624 Seiten, 25 Euro