Selbstverwaltete Gebiete in Syrien

"In wenigen Wochen droht ein zweites Aleppo"

Ein syrischer Weißhelm rennt durch Rauch in der Stadt Douma nahe Damaskus, die von Regimegegnern gehalten wird.
Regimegegner, Opposition und ein großes politisches Chaos: Und die Lage in der Stadt Damaskus wird für die Bewohner immer gefährlicher. © AFP / Sameer Al-Doumy
Omar Sharaf im Gespräch mit Dieter Kassel  · 09.03.2017
"Menschen sind eingekesselt und werden ohne Pause bombardiert", so beschreibt Omar Sharaf die Lage seiner Familie in der Nähe der syrischen Hauptstadt Damaskus. Es drohe bald ein zweites Aleppo, warnt der mittlerweile in Deutschland lebende Syrer - und die Welt schaue einfach zu.
Dieter Kassel: Es gibt in Syrien Gebiete, die stehen unter der Kontrolle der Assad-Regierung, es gibt Gebiete, die sind in der Hand des sogenannten Islamischen Staats, und es gibt Gebiete, die von oppositionellen Gruppen kontrolliert werden. Aber so einfach, wie sich das jetzt gerade angehört hat, so einfach ist es bei Weitem nicht.
Wir wollen darüber jetzt mit Omar Sharaf reden. Er kommt aus Syrien, lebt inzwischen in Deutschland, ist hier Dozent für Arabisch und arabische Sprachwissenschaft, hat im Moment einen Lehrauftrag an der Uni Heidelberg. Aber ein großer Teil seiner Familie lebt immer noch in einem Gebiet in der Nähe von Damaskus, das unter der Kontrolle oppositioneller Kräfte steht. Darüber wollen wir jetzt mit ihm sprechen, aber erst mal einen schönen guten Morgen, Herr Sharaf!
Omar Sharaf: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Dass ein Teil Ihrer Familie da noch lebt, unter anderem einer Ihrer Brüder, heißt das, wenn man in Erbin, also dieser Stadt jetzt lebt, dass man automatisch auch Teil der Opposition ist?
Sharaf: Für das Regime ist man das eigentlich automatisch. Das Regime betrachtet die Gebiete von Syrien entweder als loyal oder nicht loyal, und dementsprechend handelt das Regime mit ihnen.

Kein Strom, kein Wasser, keine Telekommunikation

Kassel: Aber was zum Beispiel das Leben Ihres Bruders und anderer Menschen in Erbin, dieser Stadt, angeht, haben die denn jeden Tag das Gefühl, es gibt sie noch, diese eine Opposition, oder herrscht da eher ein großes Durcheinander?
Sharaf: Also eher das Zweite. Wir haben viele Gruppierungen vor Ort. Wir haben noch die Aktivisten, die zivilen Aktivisten, die von Anfang an quasi protestiert haben. Wir haben aber auch gemäßigte Rebellen, bewaffnete Rebellen. Aber wir haben auch radikale Gruppierungen, die sich mit der Zeit dann eingenistet haben.
Kassel: Und wenn Sie zum Beispiel mit Ihrem Bruder oder anderen telefonieren, was erzählen die jetzt ganz aktuell von der Lage?
Sharaf: Die Lage ist so, also Sie können sich vorstellen, das sind die nordöstlichen Vororte von Damaskus, das ist ein Gebiet, etwa 15 Kilometer lang und zehn Kilometer breit oder ein bisschen breiter. Da leben 400.000 Leute drin. Die sind isoliert von der ganzen Welt, die werden beschossen jeden Tag, und die sind sich selbst überlassen. Seit 2012 gibt es keine Stromversorgung, keine Telekommunikation, keine Wasserversorgung. Und da müssen halt die Leute vor Ort, die Akteure vor Ort das Gebiet selbst verwalten und schauen, wie sie weiterkommen.

Wichtige Kontrolle der Tunnel

Kassel: Aber wie ist denn das Verhältnis der unterschiedlichen Gruppen da jetzt zueinander, also zum Beispiel das Verhältnis der eher gemäßigten, liberalen Oppositionellen zu den radikaleren?
Sharaf: In der Tat gibt es ab und zu Zusammenstöße. Es geht vor allem um die Kontrolle der Tunnel, die dieses belagerte Gebiet mit den benachbarten Gebieten verbinden. Ein Tunnel bringt Geld, und Geld will jeder haben sozusagen. Im Endeffekt verwalten die zivilen Akteure die Ortschaften. Die Rebellen, vor allem die bewaffneten Rebellen haben kein Interesse daran, Schulprojekte zu leiten oder zu verwalten. Beziehungsweise die Radikalen haben anderes im Sinn, als für die Bildung etwas zu machen.
Kassel: Jetzt habe ich vorhin ja schon gesagt, diese Dreieraufteilung, entweder IS oder Assad oder Opposition, so einfach ist es ja nicht. Gibt es denn auch in dem Gebiet, über das wir gerade sprechen, islamistische Kräfte, die ganz andere Ziele haben als die liberale Opposition?
Sharaf: ISIS haben wir zum Glück nicht beziehungsweise IS. Wir haben die Nusra-Gruppe da drin, das sind lokale bewaffnete Personen. Manche von denen, das ist leider auch ein Phänomen, viele von denen sogar, die waren zivile Aktivisten am Anfang, und über die Zeit haben sie sich dann radikalisiert.
Kassel: Macht das das Leben der weniger Radikalen auch regelrecht gefährlich? Also abgesehen von der ständigen Angst vor Assad und seinen Verbündeten. Aber müssen die Menschen da auch Angst quasi vor ihren Nachbarn haben?
Sharaf: Also Angst zumindest nicht direkt, weil gerade diese Nusra-Angehörigen stammen ja aus den Ortschaften. Man kennt sie, man kennt ihre Familien, man hat die mal in der Schule getroffen sozusagen. Problematischer ist eine andere Sache, und zwar, dass die Radikalen anscheinend einen Nachschubweg haben, das heißt, die haben Geld, die haben Waffen, während die Moderaten quasi erstickt werden Tag für Tag.

Schulen werden mit Müh und Not aufrecht erhalten

Kassel: Sie haben ja selbst schon erwähnt, wie schwierig auch die Logistik, die Versorgungslage in diesem Gebiet ist. Sie selbst arbeiten von Deutschland aus für eine Nichtregierungsorganisation namens Adopt a Revolution und sind da für den Bildungsbereich zuständig. Da frage ich mich gerade bei den Lebensumständen, die Sie beschrieben haben, gibt es denn noch Schulen, gibt es noch ein funktionierendes Bildungssystem in dieser Region?
Sharaf: Das ist das Schöne daran. Es gibt unglaublich viel Gewalt, es gibt einen Krieg, der zu den heftigsten gehört. Trotzdem haben wir es geschafft, Schulen aufrechtzuerhalten. Wir haben in unseren Schulen, also was jetzt Adopt mit betreut und finanziert mit Medico International, um die 2.000 Schüler, die trotz des Krieges jeden Tag in die Schule kommen und einen normalen Alltag haben.
Kassel: Schüler und Schülerinnen? Also wird da gemeinsam unterrichtet? Reden wir über eine Schule, über mehrere?
Sharaf: Wir reden jetzt über vier Schulen und zwei Kindergärten.
Kassel: Mit Mädchen und mit Jungs?
Sharaf: Gemischt auf jeden Fall, ja.

"Die Menschen erwarten den Einmarsch der Assad-Truppen"

Kassel: Nun müssen wir natürlich, wir haben jetzt die ganze Zeit, auch zu Recht, finde ich, über den Status quo, also darüber geredet, wie es jetzt ist, wir müssen über die Zukunft reden. Was glauben Sie denn, wird mit dieser Regierung geschehen? Also warten die Menschen da regelrecht darauf, dass früher oder später doch Assads Truppen mit ihren Verbündeten wieder einmarschieren? Oder glauben Sie, dass es da wirklich eine andere Zukunft gibt?
Sharaf: Das glaube ich schon, dass die Leute erwarten vor Ort, dass die Assad-Truppen irgendwann einmarschieren. Die Russen haben ja einen Waffenstillstand jetzt erklärt, vom 6. bis zum 20. März, das heißt, der läuft jetzt. Allerdings wird jeden Tag bombardiert und gekämpft. Also die Erklärung ist für die Medien, aber vor Ort arbeiten die Truppen an ihrem Ziel weiter.
Es scheint mir zumindest eine Frage der Zeit, und ich habe das Gefühl, dass quasi wir vielleicht in wenigen Wochen so einen zweiten Fall Aleppo haben werden. Leute sind eingekesselt, bombardiert ohne Pause von oben. Die Welt schaut zu, und irgendwann geben die Leute auf, und Assad nimmt das Gebiet wieder ein.
Das Gebiet ist sogar mehr strategisch als Aleppo an sich für Damaskus, weil wir haben hier Ortschaften, die eigentlich baulich an Damaskus grenzen, quasi eine fließende Grenze. Und das Regime kann das nicht lange dulden, dass Stadtteile beziehungsweise die Vororte seiner Hauptstadt immerhin quasi in der Hand anderer Gruppierungen sind.
Kassel: Omar Sharaf, inzwischen in Deutschland lebend und hier als Dozent arbeitend, über seine Heimatregion in unmittelbarer Nähe der syrischen Hauptstadt Damaskus, die im Moment noch in Händen der Opposition ist, aber, wir haben es gehört, wahrscheinlich gar nicht mehr lange bleiben kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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