Selbstmord auf Grönland

16.10.2012
Elf Suizide in nur einer Nacht: Eine kleine Nachricht aus Grönland lässt Autorin Anna Kim nicht mehr los. In "Anatomie einer Nacht" seziert die in Südkorea geborene Autorin die Ereignisse, die Geschichte der Insel und die Zerissenheit ihrer Bewohner.
Im Jahr 2008 ging eine Notiz durch die internationale Presse. Sie berichtete davon, dass sich in einer kleinen Stadt im abgelegenen Osten Grönlands elf Menschen in einer einzigen Augustnacht das Leben genommen hatten. Man sprach von einer Epidemie. Es gibt Statistiken, nach denen in Grönland die Hälfte aller Jungen und jedes vierte Mädchen zwischen fünfzehn und neunundzwanzig Jahren einen Selbstmordversuch unternehmen.

Für Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, aufgewachsen in Deutschland und seit 1984 in Wien lebend, war die größte Insel der Erde, am Rande der Arktis, schon immer ein magischer Ort. Fasziniert von der Meldung, beschloss die Autorin, der Sache nachzugehen. Sie flog nach Grönland, das bis heute zu Dänemark gehört. Zwei Kulturen existieren auf der Insel nebeneinander: die traditionelle der Inuit und die des kleinen Königreichs im fernen Europa. Im Laufe von zwei Jahrhunderten ist zwar eine Mischkultur entstanden, doch keine einheitliche Identität der Grönländer.

Anna Kim bereiste die Insel und lebte mit einer Inuit-Familie zusammen. Die Erfahrungen ihres Aufenthalts und zahlreicher Gespräche verarbeitete sie zuerst in dem Essayband "Invasionen des Privaten", erschienen im vergangenen Jahr im Droschl Verlag. Darin steht nicht ausdrücklich die Selbstmordepidemie im Vordergrund, doch deutet die Autorin bereits möglicherweise tiefere Gründe dafür an: die Kolonialgeschichte des Landes und deren Auswirkungen auf das Selbstverständnis seiner Bewohner.

In ihrem neuen Roman "Anatomie einer Nacht" geht Anna Kim tatsächlich nun den elf Suiziden auf den Grund. Alle finden bei ihr in der fiktiven Stadt Amaraq statt, in einer einzigen Nacht zwischen zweiundzwanzig und drei Uhr in der Früh.

Anna Kim zerlegt diese Nacht, die einzelnen Kapitel sind nach Stunden eingeteilt, in denen die Autorin retrospektiv die Lebensgeschichten der elf Protagonisten erhellt und miteinander in Verbindung bringt. Je mehr man über die Figuren, darunter Schüler, arbeitslose Jugendliche, aber auch eine Lehrerin und ein Polizist, erfährt, desto dichter und beklemmender wird die Atmosphäre. Mutlosigkeit, enttäuschte Sehnsucht, Müdigkeit und Zerrissenheit, Wehrlosigkeit gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Determinanten sowie das Ausgeliefertsein an eine Natur, die stärker ist als der Mensch, sind Motive, die jedes dieser geschilderten Leben durchziehen.

Mit großer Ruhe und höchst nuanciertem Sprachvermögen zeichnet die Autorin lebensgeschichtliche Verzweigungen und innere Befindlichkeiten ihrer Figuren auf. Aus den elf Biografien entsteht auch eine Geschichte Grönlands und das eindrucksvolle Porträt einer ganzen Lebenswelt – wie beispielsweise in Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio", Robert Altmans Film "Short Cuts" oder Ingo Schulzes Roman "Simple Stories".

Sprache wie ein Seziermesser benutzend, behutsam und souverän, legt die Autorin Tiefenschichten menschlichen Daseins an sich frei. In der Erkenntnis der Wechselbeziehung von Mensch und Natur, Leben und Tod, Vergänglichkeit und Erinnerung kommt Anna Kim in ihrer "Anatomie einer Nacht" deren Geheimnis und Herausforderung auf die Spur. Man kann diesen atmosphärisch überwältigenden Roman ebenso als grandioses Landschaftsportrait wie als anthropologische Untersuchung oder als stille, tiefgreifende Meditation lesen.

Besprochen von Carsten Hueck

Anna Kim: Anatomie einer Nacht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
99 Seiten, 19,95 Euro