Selbstfindung

Schweigen als Befreiung

Ein Junge hält sich einen Finger vor den geschlossenen Mund.
Einfach mal nichts sagen: Schweigeseminare haben Konjunktur. © picture alliance / Karl-Josef Hildebrand
Moderation: Svenja Flaßpöhler · 21.05.2017
Die Sprache differenziert die Dinge, macht sie versteh- und handhabbar. In einer Zeit der Dauerkommunikation jedoch sehnen sich immer mehr Menschen nach Stille. Schweigeseminare haben Konjunktur. Wir sprechen mit der buddhistischen Nonne Kelsang Gyalten und dem Berliner Philosophin Alice Lagaay über Welt- und Selbsterfahrung im Schweigen.
Im Schweigen sucht der Mensch innere Ruhe, sagt die buddhistische Nonne Kelsang Gyalten. Menschen, die Schweigeseminare besuchen, wollen sich den Geist zu befreien, der Ursprung des Leidens sei: Wie kann ich anders denken, wie anders wahrnehmen? Eine Antwort auf diese Frage hören wir nur in der Stille.
Alice Lagaay weist darauf hin, dass der Unterschied zwischen Sprache und Schweigen gar nicht so klar sei. Sprache ereigne sich im Raum des Schweigens, die Stille zwischen den Wörtern bringe Bedeutung erst hervor. Wesentlich für das Phänomen des Schweigens sei das Unsagbare; es zu begreifen und damit in die Sprache zu heben sei das Ziel der Philosophie.
Im Schweigen, so Lagaay, werde die Welt erfahrbar. Das Subjekt werde im Schweigen zum Teil der Welt, die strenge Teilung von Subjekt und Objekt hebe sich auf, "die Dinge beginnen zu sprechen".

Das "innere Schweigen" im Sprechen bewahren

Beide sind sich darin einig, dass sich im Schweigen eine Befreiung von Bedeutung ereigne. Sie bietet einen Zugang zur Welt, der nicht dem Impuls der Differenzierung folgt, meint Lagaay. Sprache sei immer mit Differenzierung verbunden. Im Schweigen betreten wir den Raum des "Neutrum", so die Philosophin. Einen bedeutungslosen Raum, den Baruch Spinoza mit dem Staunen assoziierte.
Für Spinoza ist das Staunen ein weder negativer noch positiver Zustand. Ein Zustand des "Weder - Noch", ein dritter Zustand, ein Raum der Indifferenz, aber keineswegs der Gleichgültigkeit.
Nah verwandt mit dem "Neutrum" scheint Kelsang Gyalten der buddhistische Zustand des "Nirvana" zu sein, "ein Ort jenseits des Leidens", sagt Gyalten, an dem der Mensch "sehr wach und präsent" sei.
Eine neue Idee der Kommunikation könne aus dem Raum des Schweigens genährt werden, meint Kelsang Gyalten. Der Mensch, der in diesem Raum seinen inneren Frieden gefunden habe, trete anders auf andere zu. Auch für Alice Lagaay geht es darum, das "innere Schweigen" im Sprechen zu bewahren, um so einen anderen Kontakt zur Welt zu gewinnen und die Dinge "sein zu lassen".

Außerdem in der Sendung:
Mit dem Klangstück "Jetzt werden wir gaaaaanz ruhig!" von Xaver Römer
Der philosophische Wochenkommentar zum Tode des Philosophen Karl-Otto Apel:
Am Montag verstarb der große Philosoph Karl-Otto Apel im Alter von 95 Jahren. Apel war ein Verfechter der Vernunft, nahm aber gleichzeitig Abstand von der Vorstellung, dass ein isoliertes Subjekt das Fundament des Wissens sei. Unser Kommentator Josef Früchtl zeigt, was wir heute noch von ihm lernen können - und erinnert sich lebhaft an den Mitbegründer der Diskursethik.
Zehn Strategien für ein besseres Leben:
"Luft nach oben - Zehn Strategien für ein besseres Leben": So heißt das neue Buch von Nikolas Dierks, das soeben bei Rowohlt erschienen ist. Für "Sein und Streit" hat Dierks die zehn wichtigsten Tipps zusammengefasst.
Die Redaktion von "Sein und Streit" freut sich auf philosophische Alltagsfragen von Hörern. Diese bitte richten an: seinundstreit@deutschlandradio.de
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