Selbstauskunft eines literarischen Einzelgängers

09.07.2008
Der 1953 geborene Reinhard Jirgl ist als großer Einzelgänger in der Gegenwartsliteratur berühmt geworden. Bis zum Ende der DDR füllten sechs umfangreiche Romanmanuskripte seine Schubladen, eine Veröffentlichung in seinem Staat war undenkbar - die alten "Formalismus"-Verdammungen aus den fünfziger Jahren hätten ihn wohl immer noch ereilt.
Jirgl hat eine eigenwillige Textform generiert, Rechtschreibung und Grammatik sind seinem Duktus und Rhythmus angeglichen, fügen sich visuellen und rhetorischen Logiken und wurden immer wieder mit dem Satz- und Schreibbau Arno Schmidts verglichen.

Jetzt erscheinen zum ersten Mal theoretische Texte von ihm, wobei klar ist: seine Romane, mit denen er sich mittlerweile auf jeden Fall in Büchnerpreis-Höhen emporgearbeitet hat, haben selbst schon alle möglichen Theoriediskurse in sich aufgesogen. Sie sind ohne Beschäftigung mit den vielfältigsten zeitgenössischen Formen der Erkenntnis gar nicht denkbar.

Deshalb ist Jirgl auch zu einem Streitfall im Literaturbetrieb geworden: Er gilt als schwierig, ja: als verstiegen, theorielastig, erzählfeindlich. Dabei sind seine Geschichten prall vor Handlung und Gegenwart, wenn man sich denn auf sie einlässt. In seiner poetologischen Vorlesung "Die wilde und die gezähmte Schrift", eine der grundlegenden Äußerungen in dem neuen Band, begründet Jirgl eingehend seine Ästhetik. Ohne ein radikales Eingehen auf das, was ist, ohne ein radikales Nachdenken über das, was Literatur von der Alltags- und Mediensprache unterscheidet, ist sein Schreiben nicht denkbar. "Schreiben - das ist meine Art, in der Welt zu sein" lautet die Überschrift zu einem langen Gespräch, einem Briefwechsel mit zwei Literaturwissenschaftlern, eine sehr gegenwärtige Form, Leben und Literatur ineins zu setzen.

Jirgl schlägt weite Bögen. Einer führt ihn von der Gespensterszene in "Hamlet" zur Kriegsberichterstattung heute, etwa im medial inszenierten Irakkrieg: diese mediale Inszenierung soll das Bewusstsein für den Zivilisationsbruch des Krieges zurücktreten lassen.

Überhaupt lässt sich Jirgl eingehend auf die Mediensprache ein, analysiert sie und bereitet sie kritisch auf. Seine eigene Sprache, die sich dem allgegenwärtigen Geschwurbel völlig entzieht, ist nicht nur eine Reaktion darauf, sondern führt ständig neue Möglichkeiten des Sprechens vor. Spätestens seit den Herausforderungen in der Moderne des 20. Jahrhunderts, seit den großen Sprachbewegungen von Joyce oder Musil, ist für Jirgl die These gültig, dass ohne Sprach- und Stiltheorie "keine anderen Romane je geschrieben worden" wären "als die, die schon immer geschrieben worden sind." Jirgl legt damit den Finger in eine Wunde: es wird heute viel zu viel geschrieben und viel zu wenig gelesen.

Hätten aktuelle Schriftsteller ein größeres Bewusstsein dafür, was Literatur bereits alles geleistet hat, könnten viele der austauschbaren und präpotenten Romane der Gegenwartsliteratur gar nicht mehr geschrieben werden. "Land und Beute" ist die wichtige Selbstauskunft eines der bedeutendsten Autoren der Gegenwart.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Reinhard Jirgl: Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996 bis 2006
Hanser Verlag, München 2008
252 Seiten, 19,90 Euro