Seitensprung und Stasi im Eifeldorf

18.03.2013
Björn Bicker hat eine virtuose und subtile Familiengeschichte geschrieben. Die Schauspielerin Elisabeth erforscht mit kriminalistischer Raffinesse das Doppelleben ihres bereits toten Vaters. Dabei ergründet sie auch die Untiefen ihres Ichs und muss feststellen: Die Vergangenheit holt uns immer ein.
Eigentlich gibt es keinen Anlass, über die eigene Herkunft zu rätseln, wenn deren Quellen unbestritten sind. Ebensowenig gibt es Gründe, mit der Vergangenheit zu hadern, wenn in der Gegenwart alles rund läuft. Ähnlich denkt die Enddreißigerin Elisabeth, die als Schauspielerin an einem Münchner Theater Karriere gemacht hat.

Längst hat sie sich damit arrangiert, dass ihre Kindheit überschattet war von einem trunksüchtigen Vater und den Verwüstungen, die diese Krankheit in der Familie hinterließ. Bis ein Anruf ihr wohltemperiertes Leben gründlich durcheinanderbringt: da behauptet ein fremder Amerikaner, er sei ihr nahezu gleichaltriger Halbbruder. In Liebe gezeugt, anders als sie, wie sie schon in ihrer Jugend schmerzvoll erkennen musste.

Obwohl sie sich nicht erklären kann, wie der Vater in dem kleinen Eifel-Dorf ein Doppelleben führen konnte, zweifelt sie keine Sekunde daran, dass der Unbekannte die Wahrheit spricht. Weil der Bruder über den Vater mehr erfahren möchte, schreibt sie für ihn auf, woran sie sich erinnert. Und sie begibt sich auf die Suche nach den dunklen Stationen in dessen Leben, wobei sie überraschend ungeahnten Abgründen ihres eigenen Ichs begegnet.

Erzählt wird aus der Sicht Elisabeths, lakonisch knapp, nüchtern, kühl. Facetten eines unglücklichen Familienlebens scheinen auf, die behinderte Schwester, eine überforderte Mutter, ein Bruder, der sich das Leben nimmt. Über allem der Vater, dessen Lebensbogen in vielen Etappen umrissen wird, von seiner Kindheit in Naumburg, der Enteignung der Eltern in der DDR und der Flucht des Schülers nach Westdeutschland, dem Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen bis zum Unterschlupf bei der Bundeswehr; von Abstürzen in den Alkohol, aber auch von seiner wiederentflammten Liebe zu einer Freundin aus Jugendtagen.

Björn Bicker zeigt nie das ganze Bild. Da die Spurensucherin vieles nur vom Hörensagen kennt, herrscht die distanzierend-indirekte Rede vor. Vieles von dem, was der Vater getan, gedacht oder gefühlt hat, muss deshalb vage oder unerklärt bleiben. Umso knalliger bis zur köstlichen Groteske geraten die Erlebnisse der Protagonistin, wenn sie mit kriminalistischem Furor einen von Schuldgefühlen geplagten Stasispitzel aushorcht, mit Hilfe eines alten Damenkränzchens nach dem einzigen Filmauftritt ihres Vaters fahndet oder bei einer Theaterprobe entnervt das Weite sucht, was dem einstigen Dramaturgen Björn Bicker schönste Vorlagen dafür bietet, die Seelenlosigkeit des Regietheaters heute genüsslich zu zerlegen.

"Was wir erben" – der Titel des Buches verweist auf die Biologie. Aber Kinder tragen die Geschichte ihrer Vorfahren nicht nur in den Genen, sie tragen sie in ihrer Seele. Gesten, Vorlieben, Fantasien und Abhängigkeiten – alles kommt wieder, verstohlen oder mit voller Kraft, ob wir wollen oder nicht.

Das führt Björn Bicker in seiner subtilen Vater-Tochter-Geschichte virtuos vor. Weil seine Heldin den Vater mitleidlos aus ihrem Leben verbannt hat, wählte sie einen Beruf, in dem es um das Erzeugen von Gefühlen geht, als Täterin, als Opfer. Süchtig ist sie nach dem Als-Ob der Schauspielerei: Der stete Rollenwechsel hilft ihr, im Leben jeden Ernstfall zu vermeiden, bis sie sich die Vergangenheit neu erzählt. "Am Ende müssen wir uns die Geschichte erfinden, die uns zufrieden stellt. Das ist unsere Freiheit."

Besprochen von Edelgard Abenstein

Björn Bicker: Was wir erben
Kunstmann-Verlag, München 2013, 286 Seiten, 19,95 EUR
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