Sein und Streit - Die ganze Sendung

Die philosophische Kristallkugel: Wohin steuert die Geschichte?

Eine zauberhafte Sequenz aus einem Traum mit einem Mädchen am Meer mit Felsen, umgeben von einem Affen und einem Heißluftballon.
Die Philosophie habe die schöpferische Kraft, uns selbst und unser Dasein anders zu erzählen, meint Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des "Philosophie Magazin". © Imago / Westend61
Armen Avanessian, Wolfram Eilenberger und Catherine Newmark im Gespräch mit Katharina Borchardt · 01.01.2017
Am ersten Tag des Jahres stellen wir im Philosophie-Magazin die Frage, wie es denn nun weitergehen soll angesichts all der Krisen? Vertreter des Spekulativen Realismus verweigern das Prognostizieren der Zukunft. Stattdessen denken sie sich eine mögliche aus.
Terror, Trump, Flüchtlingskrise, ein Europa, das auseinanderzubrechen droht. Das vergangene Jahr hat uns verstört und irritiert zurückgelassen. Umso drängender fragt man sich, wie es nun weiter geht im Jahr 2017: Wie tragfähig sind teleologische Geschichtsmodelle vor dem Hintergrund der Katastrophen und Rückschläge? Und wie ließe sich der geschichtliche Verlauf vorhersagen, wenn selbst Statistiken und Algorithmen mit ihren (Wahl-) Prognosen fehl gehen? Schlägt genau jetzt die große Stunde der Philosophie?

Gäste im Studio:
Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des "Philosophie Magazin",
der Philosoph Armen Avanessian
und unsere Redakteurin Catherine Newmark.

Die Kraft der Spekulation

"Philosophen schaffen keine wissenschaftlichen Prognosen", stellt Wolfram Eilenberger direkt zu Beginn klar. Wissenschaft geht von Daten aus, die Philosophie hingegen spekuliert. "Der Begriff der Spekulation stammt von spekulare, das heißt: sich auf einen Feldherrenhügel zu begeben und eine Sicht auf ein Terrain zu bekommen." Im Philosophieren, so Catherine Newmark, gehe es um eine "Erweiterung des Raumes, des Denkmöglichen". Armen Avenessian, Mitbegründer der philosophischen Schule des "Spekulativen Realismus", fügt hinzu: "Anstatt Zukunft zu prognostizieren geht es darum, sich eine Zukunft auszudenken, die unsere Gegenwart bestimmt."

"Wir können jederzeit alles verlieren"

Geschichte als Fortschritt zu denken sei problematisch, meint Catherine Newmark. Das Hegelianische Geschichtsmodell sei im Grunde immer noch ein religiöses Deutungsmuster mit säkularem Vorzeichen: Am Ende stehe das Heil. Doch zeigt gerade unsere heutige krisengeschüttelte Zeit, dass wir alles Gewonnene wieder verlieren können. Viel überzeugender findet Newmark daher die Geschichtsauffassung von Hannah Arendt, die den Neuanfang in den Mittelpunkt ihrer Philosophie stellt: "Mit jeder Geburt können wir wieder neu anfangen." Das sei eine Chance, aber natürlich auch eine Last. Wolfram Eilenberger bringt Walter Benjamins Geschichtsmodell gegen Hegel ins Spiel: Geschichte sei prinzipiell offen – für das Gute, wie auch die Katastrophe: "Wir können jederzeit alles verlieren."

Umgekehrte Prophetie

Armen Avanessian plädiert dafür, die Chancen des technischen Fortschritts zu sehen und auch unsere "Vergangenheitsfixiertheit" zu überdenken: "Wir leben in einer digitalisierten, algorithmisierten Zeit, in der wir uns aus der Zukunft her verstehen müssen." Dieses "Aus der Zukunft her" sei im Grunde auch eine erkenntnistheoretische Methode: Man kann nicht zugleich in der Gegenwart sein und sie erkennen. "Erst in der Rückschau zeichnen sich die Dinge klarer ab", meint auch Catherine Newmark.

Eine Zukunft jenseits des Wachstums?

Wir brauchen eine andere Erzählung unserer Zukunft. Die Zeit des Wachstums sei vorbei, so die Runde. Wir müssen anerkennen, dass unsere Existenzform absolut "unwahrscheinlich" (Eilenberger) sei. Genau hier liege die Potenz der Philosophie: In ihr liege die schöpferische Kraft, uns selbst und unser Dasein anders zu erzählen.
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