Sein Kampf

30.03.2011
In Skandinavien, nicht nur in der norwegischen Heimat des Autors, ist Karl Ove Knausgards umstrittenes autobiografisches Romanprojekt "Min kamp" ein Bestseller sondergleichen.
Auf Norwegisch sind bislang fünf von sechs geplanten Bänden erschienen, der erste Band liegt jetzt auf Deutsch vor. Natürlich nicht unter dem Titel "Mein Kampf", das war dem deutschen Verlag zu heiß, obwohl Knausgards Kampf im Gegensatz zu Hitlers sehr unheroisch dargestellt ist. Beide haben eine Autobiografie geschrieben, das ist die einzige Parallele.

Die dürren Fakten zu Knausgard: geboren 1968 in Oslo, der Vater Lehrer, die Mutter Krankenschwester, ein älterer Bruder; nach Stationen in Bergen und Stockholm jetzt in Malmö wohnhaft, mit seiner zweiten Frau, einer Schwedin, drei Kinder. "Mein Kampf" ist eine Anspielung auf die Großmutter, die ihre einstige Arbeitgeberin zitierte: "Das Leben ist ein Gampf" – sie konnte kein K sprechen. Aber wichtiger ist, dass der Autor sein Leben selbst als Kampf empfindet: zwischen Mensch und Künstler, zwischen Familie und Literatur.

Am Anfang steht eine essayistische Passage über unseren Umgang mit dem Tod, seine häufige Präsenz in allen Medien und unsere Scheu vor der realen Körperlichkeit des Todes. Die zweite Hälfte des Buchs behandelt einen konkreten Tod, den des Vaters, der eigentlichen Hauptperson des Romans, eines undurchschaubaren Machtmenschen, der sich vor den Augen seiner Mutter langsam zu Tode säuft. Faszinierend ist die scheinbare Zügellosigkeit von Knausgards Denken. In einer regelrechten Gedankenflut schildert er die ganze Bandbreite des Lebens. Allerdings merken wir bald, dass dieses "wilde" Denken eine genau durchdachte Dramaturgie hat.

Wie der Geschmack der Madeleine bei Proust dient bei Knausgard ein Gesicht in der Maserung seines Holzfußbodens dazu, sich wieder an Kindheit und Jugend zu erinnern, die Jahre in eher ländlicher Gegend mit einer wie abwesend scheinenden Mutter und dem ungerechten, lieblosen Vater, die ersten Mädchengeschichten, der geheime Bierkonsum, die ätzenden Feten. All das ist eigentlich banal. Aber es gehört zu Knausgards Projekt, genauso wie die langen, rücksichtslosen Reflexionen über Kunst, Sex, Sprache, Traum, den eigenen Wert oder Nichtwert. Die Grundlage von Knausgards großem Erfolg ist einerseits der allgemeine "Wirklichkeitshunger" (David Shields), andererseits die angestrebte stressfreie Lebenshaltung. Knausgard stellt gleich zu Beginn klar: "Glück ist nicht mein Ziel."

Nicht zuletzt ist es ein Kampf zwischen dem historischen und dem literarischen Knausgard, zwischen Realität und Fiktion, ein Thema, aus dem derzeit eine eigene Gattung zu entstehen scheint – sowohl im Norden (Per Olov Enquist, Lars Norén, Tomas Espedal) als auch in Frankreich (Jonathan Littell, Mathias Énard, Yannick Haenel). Irgendwo sagt Knausgard sinngemäß, Schreiben heiße, die Dinge aus dem Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen. Mit Blick auf seine Bücher sagt er: "Obwohl sie mir keine Erkenntnisse eintrugen, bereicherten sie mich doch umso mehr um Ahnungen und Wahrnehmungen." Wir sind gespannt auf die weiteren Bände dieses kühnen Unternehmens. Die Diskussion über das Verhältnis von Fakten und Fiktion, Autobiografie und Roman, die es angestoßen hat, ist noch lange nicht zu Ende.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Karl Ove Knausgard: Sterben. Roman
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand Verlag, München 2011
576 Seiten, 22,99 Euro
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