Sehnsucht nach einer heilen Welt

08.03.2010
Juri Rytchëu (1930-2008) hat seinen Lesern das Fenster zu einer faszinierend fremden Welt geöffnet – er zeigt die Welt der Tschuktschen, eines kleinen Volkes im Nordosten Sibiriens. Kurz vor seinem Tod vollendete der Schriftsteller eine Sammlung autobiografischer Texte, "Alphabet meines Lebens", eine Enzyklopädie der Erinnerungen mit gut 70 Einträgen, sortiert nach Stichwörtern.
Bestimmte Begriffe erwartet man bei der Lektüre: "Wal" (ein "heiliges Wesen"), "Eis" (von den Robbenjägern nach Form und Schattierung unterschieden), "Brauch, Lebensart" ("Ohne Befolgung des gesamten Kodex gab es für den Menschen keine Existenz.") Der Enkel eines "Schamanen", in einer Fellhütte aufgewachsen, nahm jedoch einen ungewöhnlichen Weg. Ab Ende der 40er besuchte er in Leningrad die "Universität". "Bücher" gab es kaum daheim (Großvater besaß eine zerfledderte russische Bibel), und doch wurde Rytchëu ein "Büchermacher". Erst holte er Weite und Ferne ins abgeschiedene Tschukotka; er übersetzte russische Klassiker, etwa Puschkin, und Stars der Sowjetliteratur wie Scholochow. Dann erzählte er den Russen (und später den Westeuropäern) vom Lebenskampf der Tschuktschen. Russische Autoren, sagt Rytchëu, zeigten die Tschuktschen gern "naiv bis zur Dummheit"; er wollte sie wirklichkeitsnah zeichnen – und verirrte sich im Dogmengeflecht des sozialistischen Realismus, "bei dem das Gewünschte als Realität dargestellt wurde".

Die Sehnsucht nach einer heilen Welt spürt man noch in diesem späten Buch. Einen Tirkeryt (Sonnenherrscher oder Imperator) hätten die Tschuktschen nie gekannt, schreibt Rytchëu. "Keinen Herrscher, keinen Führer, keinen geistigen Anführer." Stattdessen existierte "Demokratie in beinahe reinster Form". Korruption – "dieses Wort gibt es in der tschuktschischen Sprache bis heute nicht". Das mag so sein. Doch selbst das Sowjetsystem erscheint bei Rytchëu in ungewöhnlich sanftem Licht. Vielleicht, weil der Autor so lange an dieses System glaubte. Ja, es gab die "Miliz" und ihre Strafexpeditionen gegen die Völker des Nordens. Und das erste "Automobil" sah der junge Rytchëu 1944 als Zwangsarbeiter an der Sankt-Lorenz-Bucht. Der Autor verpackt den Schrecken in Anekdoten – und schon wirkt das Erlebte weniger schrecklich.

"Alphabet meines Lebens" ist ein altersmildes Lesebuch, eine Anthologie heiterer und melancholischer Geschichten. Eine Skizzensammlung über ein Paradies, das es so wohl nie gegeben hat. Schön und stimmig sind die Naturschilderungen. Im Spätherbst 1993 – davon handelt eine Skizze - fuhr Rytchëu mit Gefährten in einem Lederkanu hinaus auf den Pazifik. Es war einer der letzten ruhigen Tage vor dem großen Eis und vor den Stürmen. Er sah die Sterne leuchten, sah den Mond als schmale Sichel und dann das Polarlicht. Am Morgen verlosch das Polarlicht; Sterne und Mond aber konnten sie selbst dann noch sehen, als über Alaska schon die kalte Herbstsonne aufgegangen war. In gleißendem Sonnenschein erreichten die Männer die Sankt-Lorenz-Bucht. "Unseren Weg kreuzte eine Walkuh mit ihrem Kalb. Sie stieß eine Fontäne in den Himmel."

Besprochen von Uwe Stolzmann

Juri Rytchëu: Alphabet meines Lebens
Aus dem Russischen von Antje Leetz
Unionsverlag, Zürich 2010
384 Seiten, 22,90 Euro