Sehnsucht nach der guten Welt

02.04.2013
In einer Welt, in der das Geld regiert, kann es keine Gerechtigkeit geben, sagt der Harvard-Politologe Michael J. Sandel. In seinem jüngsten Buch wettert er einmal mehr gegen das Diktat der Ökonomie.
Markt und Moral: Sandels jüngstes Lieblingsthema ist keiner Mode geschuldet, sondern seiner Methode. Er hinterfragt die auf den ersten Blick unsichtbaren Weltbilder, mit deren Hilfe wir unsere Alltagsideen und Lebensumstände als natürlich begreifen. Oder eben auch, seit der Finanzkrise von 2008, als fragwürdig. So schwimmt der Harvard-Politologe mit seinen Themen auf einer Welle globaler Popularität, weil er selten nur abstrakt philosophiert. Vielmehr schließen seine Fragen fast immer an aktuelle Probleme an.

"In den letzten Jahrzehnten hat die Ökonomie den öffentlichen Diskurs dominiert und Überlegungen zur Gerechtigkeit verdrängt", das sieht jeder. "Was man für Geld nicht kaufen kann", hieß sein letztes auf Deutsch erschienenes Buch. Zu solchen Gütern zählen für ihn "Gesundheit, Ausbildung, Familienleben, Natur, Kunst, Bürgerpflichten", denn das sind "moralische und politische, nicht nur ökonomische Fragen".

Wert sei nicht dasselbe wie Preis. In manchen US-Gefängnissen kann man sich eine Komfort-Zelle kaufen, sauberes Trinkwasser ist in vielen Ländern eine Geldfrage, Bildung sowieso, und Schutz vor Gewalt hängt davon ab, ob man sich Beschützer leisten kann. Es sind solche Ungerechtigkeiten, glaubt Sandel, die das universelle Unbehagen erklären.

"Die Bürger wollen, dass das öffentliche Leben weiter gefasste moralische Fragen aufgreift - das schließt Fragen zur Gerechtigkeit und zur Bedeutung einer guten Gesellschaft ein." So wettert Sandel zwar "gegen den zügellosen Individualismus, gegen Leistungsideologie", aber auch gegen modische Bürgerideale und Lebensformen, etwa gegen jene "selbstgewisse Autonomie, die sich der Freiheit beraubt, politisch zu werden" – also den Rückzug ins Private. Ein Sprengsatz, deren Sandel viele in seine nur scheinbar neutrale Rhetorik schmuggelt.

Es geht Sandel – und damit schließt er an die Ethik der griechischen Antike an – um Grundsatzfragen des richtigen Lebens. Mit Recht trennt er zum Beispiel die Bewertung einer Absicht von der Bewertung der Folgen einer Handlung, ähnlich wie auch wir es im Alltag tun. Ist es gerecht, einer Leihmutter das Kind, wie vertraglich abgesichert, wegzunehmen? Darf man einen Menschen töten, um viele zu retten? Ist es gerecht, wenn – nach Sturmschäden – Dachdecker, Generatorenhändler und Hotels ihre Preise drastisch erhöhen?

Im letzten Fall würden Neoliberale ohne Zögern mit Ja antworten: Jeder Kauf sei freiwillig und daher moralisch einwandfrei. Kant würde einwenden, die Händler instrumentalisieren die Menschen in Not und entwürdigen sie so: unmoralisch, ungerecht. Andere, die das Gemeinwohl als Voraussetzung des individuellen Wohls begreifen, sähen in dieser Ausnutzung die Grundlagen der Gemeinschaft bedroht. Von religiösen Pflichten ganz zu schweigen.

Sandel schießt ganze Salven solcher Moralkonflikte ab, um das Bewusstsein zu wecken, dass der jeweilige Sinn für Gerechtigkeit immer nur das Produkt unseres – historisch wandelbaren – Welt- und Menschenbilds ist. Gerechtigkeit an sich gibt es nicht, so Sandel, ihre Definition wird unaufhörlich verhandelt. Dazu freilich braucht es eine politisch handelnde Öffentlichkeit, die nicht länger vor Marktmythen resigniert.

Besprochen von Eike Gebhardt

Michael J. Sandel: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun
Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter
Ullstein Verlag, Berlin, 2013
416 Seiten, 21,99 Euro
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