Schwieriger Weg zu innerer Einheit

Von Claus Menzel · 03.10.2005
Überall läuteten die Glocken, Fahnen wurden gehisst, Sektflaschen entkorkt - fast drei Jahrzehnte nach dem Bau der Mauer quer durch Berlin war die Zeit der Teilung Deutschlands zu Ende. Heute ist von der Euphorie des 3.Oktober 1990 nicht mehr viel zu spüren - der Weg zur inneren Einheit der Nation hat sich als länger und schwieriger erwiesen als die meisten glaubten.
In den herbstlich schütteren Bäumen hingen Lautsprecher, die ein paar Hunderttausend Menschen zwischen dem Alexanderplatz auf der einen und der Siegessäule auf der anderen Seite des Berliner Brandenburger Tors mit Werken von Bach, Vivaldi oder Händel beschallten.

Klassische Musik, so das richtige Kalkül der Organisatoren, werde allzu heftige und womöglich peinliche Begeisterungs-Ausbrüche ein wenig dämpfen. Als dann freilich, um Mitternacht, der deutsch-deutsche Einigungsvertrag in Kraft trat und die Deutsche Demokratische Republik ein Teil der Bundesrepublik Deutschland wurde, kannte der Jubel kaum noch Grenzen.

An einem Mast vor dem Reichstagsgebäude stieg eine riesige schwarz-rot-goldene Fahne in den Himmel, wildfremde Menschen prosteten einander zu oder lagen sich in den Armen. Dem deutschen Jubelherbst 1989 mit dem Fall der Mauer war der deutsche Jubelherbst 1990 mit der formellen Wieder- oder Neuvereinigung gefolgt. "Wir Deutsche", hatte der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, wenige Stunden zuvor in einer Rede erklärt, "erreichen die Einheit in Freiheit".

"Ich glaube, wir alle haben Grund, uns zu freuen und dankbar zu sein. Wir lassen ein System hinter uns, das sich demokratisch nannte ohne es zu sein. Seine Kainszeichen waren die Unfreiheit des Geistes und das verordnete Denken, Mauer und Stacheldraht, der Ruin der Wirtschaft und die Zerstörung der Umwelt, die ideologisch kalkulierte Gängelung und das geschürte Misstrauen. An die Stelle dieser Tyrannei sind Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde getreten."

Wohl wahr. Der untergegangenen DDR nachtrauern mochte an diesem 3.Oktober 1990 niemand, abgesehen vielleicht von ein paar strammen Funktionären der ehemaligen Staatspartei SED und ein paar nun arbeitslosen Würdenträgern des Regimes. Und wo ein paar Skeptiker auf beiden Seiten der alten deutsch-deutschen Grenzen schon vor einem neuen Großdeutschland warnten, freuten sich rund 17 Millionen darauf, endlich in einem freien Land zu leben.

Zu reisen, alles lesen und sagen zu dürfen, für gute Arbeit gutes Geld und für gutes Geld auch gute Waren zu bekommen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der deutschen Einheit waren ja, wie Bundeskanzler Helmut Kohl versicherte, ausgezeichnet.

"Noch nie waren wir besser vorbereitet als jetzt, die wirtschaftlichen Aufgaben in der Wiedervereinigung zu meistern. Hinzu kommen Fleiß und Leistungsbereitschaft bei den Menschen der bisherigen DDR.

Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen, durch die Politik der sozialen Marktwirtschaft werden schon in wenigen Jahren aus Brandenburg, aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt und aus Thüringen blühende Landschaften geworden sein. Die wirtschaftlichen Probleme, dessen bin ich gewiss, werden wir lösen können. Gewiss nicht über Nacht, aber doch in einer überschaubaren Zeit."

Beide irrten, die Skeptiker mit ihren Sorgen, die Optimisten mit ihrer Zuversicht. Auch das neue, beträchtlich gewachsene Deutschland blieb friedlich, die verblasenen Parolen einer neuen Rechten, die Deutschland aus seinen Bindungen an den Westen lösen wollten, verhallten ungehört. Nur zeigte sich auch bald, dass die Hoffnung auf eine Mercedes- und Mallorca-Gesellschaft auch zwischen Ostsee und Thüringer Wald trog.

Zwölf- oder sogar fünfzehnhundert Milliarden Euro sind seit dem Tag der Wiedervereinigung in die ehemalige DDR geflossen - einen Boden hat das Fass östlich der Elbe nicht gefunden. Patriotismus ist nun einmal ein Wert ohne Börsennotiz. Überalterung, Arbeitslosigkeit und Abwanderung verwandeln die ehemalige DDR so nach und nach in einen Raum ohne Volk.

Und die stupende Selbstgerechtigkeit, mit der sich westdeutsche Politiker, Publizisten und Juristen über die Geschichte der DDR und die Biographien ihrer Bürger hermachten, konnte ein entspanntes Verhältnis zwischen den einen hier und den anderen dort gar nicht erst entstehen lassen. Noch immer hält sich eine Mehrheit der Ostdeutschen für Bürger zweiter Klasse. Da wählt man dann schon mal die ganz Linken oder ganz Rechten. Nicht aus Überzeugung. Aus Protest.

"Wie gut uns die Einheit menschlich gelingt, das entscheiden kein Vertrag der Regierungen, keine Verfassungen und keine Beschlüsse des Gesetzgebers, das richtet sich nach dem Verhalten eines jeden von uns. Es ist das Plebiszit jeden Tages, aus dem sich der Charakter unseres Gemeinwesens ergeben wird."

sagte Richard von Weizsäcker am 3.Oktober 1990.