Schwergewichtige Biografie

26.10.2009
Autor Christian Linder ist in seiner Biografie über den Schriftsteller Heinrich Böll immun gegen allzu große Nähe wie auch gegen jeden Versuch, sein Thema in die strenge Wissenschaft zu entrücken.
Kein anderer deutscher Schriftsteller hat die deutsche Nachkriegsliteratur so geprägt wie Heinrich Böll. Da verwundert es, dass seit dessen Tod 1985 lediglich eine einzige Biografie erschienen ist, und zwar aus der Feder eines langjährigen Weggefährten und engen Freundes, des Literaturwissenschaftlers Heinrich Vormweg. Man kritisierte an ihr seinerzeit, dass sie mangels des nötigen Abstands zu auffällig hagiografische Züge trage. Jetzt tritt eine neue, schwergewichtige Biografie in diese Lücke.

Auch Christian Linder kannte Böll persönlich, er hat mehrfach über Böll geschrieben, nachdem er in den 70er-Jahren ein vielstündiges Interview mit ihm geführt hat, das unter dem Titel " Drei Tage im März" publiziert wurde. Doch Linder ist immun gegen allzu große Nähe wie auch gegen jeden Versuch, sein Modell in die strenge Wissenschaft zu entrücken. Vielmehr forscht er nach den unerkannten Impulsen für Bölls Schreiben und versucht die "geheimen Abgründe" in einem Leben aufzuspüren, das sich der Humanität und dem moralischen Gewissen verpflichtet sah. Dabei vermeidet er durchweg jede Art von skandalisierendem Ton.

Wie schon in seiner Carl-Schmitt-Biografie folgt Linder auch hier keinem chronologischen Faden. In drei großen Kapiteln - "Der Reisende", "Der Staub der Trümmer", "Das Imperium" - gruppiert er die großen Lebensmotive, die Bölls Lebens- und Werkgeschichte prägten, immer wieder unter neuen Aspekten. Dass diese Vertreibung und Verfolgung heißen, ist wahrhaft überraschend, wird aber umso glaubwürdiger geschildert. So kann er zum Beispiel nachweisen, dass Böll auf dem Höhepunkt der RAF-Kampagne nicht gegen Übertreibungen gefeit war, als es darum ging, die Willkür polizeistaatlicher Übergriffe anzuprangern.

Linder zitiert nicht nur aus den aufschlussreichen Briefen aus der Soldatenzeit im II. Weltkrieg, in denen man einen Böll kennenlernt, der bis 1944 an den deutschen Sieg glaubt, ja diesen herbeisehnt, der schwankt zwischen Hass und Schuld, sondern auch aus seinen frühen, erst nach dem Tod des Autors aus dem Nachlass veröffentlichten Erzählungen. Dafür konnte er auf die seit 2002 erscheinende Kölner Werkausgabe von Heinrich Böll, die bis auf zwei Bände mit Interviews vollständig vorliegt, zurückgreifen.

Anders als seinem Vorgänger Vormweg, gelingt es Linder immer wieder, das problematische Bild von Böll in der Öffentlichkeit, das ihn als den ewig guten Menschen einerseits, als literarisch belanglosen Schriftsteller andererseits festlegte, von Klischees zu befreien. Ins Visier nimmt er ebenso bislang ungelöste Fragen und Widersprüche wie Bölls Glaubenssehnsucht und seine Verurteilung der Kirche, sein Pathos der Humanität und den heillosen Hang zur Schwermut, seine keusche Scheu vor Themen wie Erotik und Sexualität und ein zweifelhaftes Frauenbild, seine Liebe zur Anarchie und zum Konservatismus gleichermaßen. Diese Kontraste dienen Linder gewissermaßen als Fahrplan der biografischen Erkundung. Auch wenn er mit kühlen Diagnosen nicht spart, die das begrenzte Potential des Autors vor allem in der formalen Konstruktion seiner Romane angeht, entzieht er ihm doch nirgendwo seinen Respekt.

Und er zeichnet ein anschauliches Bild davon, wie es zur einstigen Resonanz des Schriftstellers in der Öffentlichkeit kam. Neben dem politischen Engagement, mit dem Böll in die aktuellen politischen Diskussionen eingriff, wurde er der große Autor der Nachkriegszeit ja nicht nur wegen seiner hartnäckigen Resistenz gegen alle Moden. Er wurde es dank seinem furchtlosen Umgang mit dem Banalen, mit der schmutzigen, dunklen Abseite des Alltags. Grund genug, ihn über diese Biografie noch einmal kennenzulernen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Christian Linder: Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll. Eine Biografie
Mattes & Seitz-Verlag, Berlin 2009
624 Seiten, 29,90 EUR