Schweiz, Italien, Frankreich

Das Verschwinden der Gletscher

21:53 Minuten
Eine Eisentreppe führt an kahlen, gerölligen Felswänden hinunter. An einem Felsen ist ein Schild angebracht, das darauf hinweist, dass 1990 hier die Decke des Gletschers war.
Wo vor wenigen Jahrzehnten noch ein Eismeer war, sind heute nur noch Schutt und kahle Feldwände. © imago/ Panoramic / Lionel Urman
Von Knut Benzner · 08.09.2020
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Schutt und Geröll statt Schnee und Eis: Die Erderwärmung lässt die Gletscher in den Alpen schmelzen. Der Autor Knut Benzner beobachtet das Geschehen seit 13 Jahren und hat festgestellt: Es ist noch schlimmer gekommen als damals prognostiziert.
"Die Schweiz ist ähnlich wie die anderen Alpenländer. Man hat seit 1850 bis etwa 1970 die Hälfte des Gletschervolumens verloren, seit den 70er-Jahren bis ins Jahr 2000 noch einmal ungefähr 25 Prozent", sagt der Geograf Wilfried Haeberli. "Das ist ein Prozent pro Jahr, und seit dem Jahr 2000 verlieren wir ungefähr zwei bis drei Prozent des restlichen Volumens pro Jahr."
Wilfried Haeberli ist Professor an der ETH-Zürich, inzwischen emeritiert. Die Aussage, die er eben traf, ist 13 Jahre alt, und das, was er sagte, ist nicht nur eingetroffen, sondern übertroffen worden.
"Wir sind jetzt auf der Sphinx-Terrasse, auf dem Jungfraujoch, wo wir wunderbare Aussicht in den Norden haben."
3571 Meter hoch, mit der Jungfraubahn durch den Eiger und den Mönch, die Sphinx ist ein Observatorium. Auf der einen Seite der Aletschgletscher, auf der anderen das Tal. Sandra Kaiser, Bergführerin und Reiseleiterin der Jungfraubahn, 63, macht das seit 14 Jahren. Der Aletschgletscher: "Mit dem Concordia-Platz, wo die drei Gletscher sich zusammenfügen und dann als großer Aletschgletscher in den Süden fließen, der Strom."
Ein Foto mit dem Aletschgletscher von 1856 vor dem Gletscher im Zustand von 2007.
Vor 150 Jahren war der Aletschgletscher in der Schweiz noch etwa drei Kilometer länger als heute.© Getty Images / Corbis / Pallava Bagla
22 Kilometer vom Jungfraujoch ins Tal. 81,7 Quadratkilometer, hier oben 900 Meter dickes Eis. "Wenn das wegschmilzt, haben wir tiefe, tiefe Täler."
Es schmilzt: Die gesamte vergletscherte Fläche einschließlich dieser Gletscher betrug 1973 etwa 128 Quadratkilometer, für das Jahr 1863, also 90 Jahre zuvor, wird eine Fläche von 163 Quadratkilometer angenommen.
"Ja, und wenn man, so wie ich, immer wieder hier hochkommt, kann man wirklich beobachten, dass die Ränder des Gletschers, das Niveau des Gletschers sich immer weiter senkt."

Vor 50 Jahren konnte man zum Gletscher laufen

Die Aussicht ist dennoch atemberaubend und die Gletscherschmelze, die Sandra Kaiser beschreibt, wird am Eigergletscher, der ehemals bis zur Kleinen Scheidegg floss, sowie dem Grindelwaldgletscher, der auf der Südseite vom Eismeer kommend bis ins Tal ging, noch deutlicher.
"Und man konnte noch vor 50 Jahren zum Grindelwaldgletscher laufen und ihn berühren, oder Flecken hochsteigen und auf dem Gletscher stehen."
Klimawandel? Geologensache, sagt sie.
"Die Römer wären nicht über die Alpen gekommen, wenn es damals nicht viel kürzere Gletscher als jetzt gehabt hätte. Aber es geht halt heute viel schneller, das spüren wir im Tal sehr, überall ist mehr Wasser bis so Mitte Sommer, das ins Tal fließt."
Im Hintergrund ein Hubschrauber, der ein paar Touristen von A nach B bringt.
"Es sind etwa vier Grad so, nicht so kalt eigentlich. Etwa vor drei Jahren hat es hier, seit sie Messungen machen, also seit 80 Jahren, das erste Mal geregnet. Es war immer um die null Grad, und jetzt geht das schon im Sommer gegen zehn Grad, man sieht es dem Schnee an auf dem Eis."

Die Flagge von China weht in Interlaken

Unten im Tal in Interlaken wehen ein paar Fahnen: Die Schweizerfahne natürlich, das weiße Kreuz auf rotem Grund, die des Kantons, das ist Bern, die Interlakens und die Flagge der Volksrepublik China: Der große gelbe Stern, umgeben von vier kleineren, ebenfalls roter Grund. Warum? Weil sie gern gesehene Gäste sind, weil sie Geld haben und genau das mitbringen. Und weil sie es in der Regel eilig haben, wird gebaut.
Von Interlaken-Ost bis zur Kleinen Scheidegg braucht die Bahn knapp eineinhalb Stunden, von der Kleinen Scheidegg mit der Jungfraubahn aufs Jungfraujoch, auf das so genannte Top of Europe – den höchsten Bahnhof Europas – dann noch mal knapp eine halbe Stunde. Sind zusammen zwei. Wie gesagt: Man baut. Vor der Eiger-Nordwand. Sandra Kaiser:
"Das ist die neue Station der V-Bahn, die V-Bahn ist die Bahn, die unten in Grindelwald mit einem Bein vom V nach Männlichen und mit dem anderen eben zum Eigergletscher fährt, und das wird im Dezember möglich sein, im Dezember wird der Eiger-Express eröffnet. Die Männlichen-Bahn ist schon eröffnet, mit der V-Bahn ist es dann halt möglich, dass man viel schneller auf Eigergletscher ist, mit der V-Bahn wird man schneller da oben sein."
Was sparen sie, die Touristen? 15, 20, 30 Minuten. Es geht um Zeit.
"Es geht um Zeit ein bisschen, ja, asiatische Gäste haben nicht so viel Zeit, die machen oft Europa-Touren, kommen vielleicht von Österreich über Italien in die Schweiz und dann vielleicht nach Berlin oder Düsseldorf oder Paris. Das macht sicherlich den Ausflug aufs Jungfraujoch beliebter, weil er dann nicht so stressig ist."

Bebauung in den Alpen wurde nicht überwacht

Man hat immer gebaut. Die erwähnte Sphinx etwa, das Observatorium. Hans-Rudolf Keusen von Geotest in der Nähe von Bern beriet die Gemeinden im Berner Oberland bezüglich Naturgefahren, im Zusammenhang mit dem Klimawandel.
"Also Jungfraujoch, hier hat man in den letzten Jahren Neubauten realisiert, Berghaus, die Sphinx. Die Sphinx ist ein sehr exponiertes Bauwerk, das auf einem Felssporn im Permafrost steht, die Forschung ist seit 1930 dort oben, und jetzt die Aussichtsterrasse seit 1995. Und die Aussichtsterrasse ist natürlich ein großes Bauwerk, das auf diesem gefrorenen Felssporn steht, und da habe ich dann zur Bedingung gemacht, dass man diesen Felsen überwacht, instrumentiert. Das kann ich jetzt eigentlich sauber kontrollieren, und wenn sich etwas verändert, erkenne ich das frühzeitig."
Auch diese Aussage ist 13 Jahre alt, Keusen ist längst pensioniert. Und seine Beratung anscheinend nicht mehr relevant.
Teilweise von Schnee bedeckte Alpengipfel vor strahlen blauem Himmel.
An Eiger, Mönch und Jungfrau gehen die Gletscher zurück.© Knut Benzner
Weiter nach Chamonix. 230 Kilometer um den Berg herum oder 180 Kilometer mit dem Autozug durch den Lötschberg durch. Die Kirche von Chamonix Mont Blanc. Chamonix, das nebenbei, war 1924 der erste Ort, an dem Olympische Winterspiele stattfanden.
Von Chamonix kommt man auch mit einer Bahn, einer Zahnradbahn, zum Mer de Glace. Früher floss der Gletscher an seinem Ende über eine Steilstufe hinunter ins Tal von Chamonix, direkt vor die Streusiedlung Les Bois. Die Gletscherzunge war eine Sehenswürdigkeit des alten Chamonix, der Gletscher 130 Meter dicker als heute, man trieb Schafherden hinüber. War der Anblick des Aletsch atemberaubend, ist der Anblick des Mer de Glace, des Eismeeres, erschreckend: Schutt, kahle Felswände, das Nichts. Ein weiter, breiter, klaffender, tiefer Strich.

In 50 Jahren werden die Gletscher verschwunden sein

Luc Moreau ist Glaziologe, Gletscherforscher aus Grenoble. Wir stehen über dem Mer de Glace, zwölf Kilometer lang, nordöstlich des Mont-Blanc-Gipfels. Moreau und seine Kollegen messen den Mer de Glace seit 50 Jahren:
"Wir sehen Stein und Sand, weil der Gletscher aufgehört hat zu fließen, er verliert jedes Jahr diese Massen Sand und Schutt. Seit 30 Jahren haben wir heiße Sommer und der Gletscher hat Schwierigkeiten, all die Rückstände der Erosion abzuladen. Auf der Oberfläche fällt die Moräne, innen ist das Eis pur und blau, aber der Gletscher selbst ist nur noch 60 Meter dick und hier, auf dem Niveau der Eisgrotte, ist er über fünf Kilometer 350 Meter gesunken. Die Gletscheroberfläche scheint schwarz."
Klimawandel? Globale Erderwärmung, gar keine Frage, so Moreau, weltweit ein Grad, in den Alpen zwei, im Mont-Blanc-Massiv drei Grad mehr. Weniger Schnee, weniger Eis, der Fels saugt Energie auf, er schmilzt schnell, exponentiell.
"Die Simulation für die nächsten 50 Jahre: Wir wissen, dass alle Alpengletscher, sei es nun der Grindelwaldgletscher oder der Bossonsgletscher, das ist der Gletscher auf der Nordseite des Mont-Blanc-Massivs, dann der Planpincieux-Gletscher auf italienischer Seite in Courmayeur natürlich, diese Gletscher werden verschwunden sein. Das Mer de Glace wird vier Kilometer verlieren, die Gletscher antworten auf das Klima. Ein Beispiel: Wenn die globale Erderwärmung morgen stoppen würde, gäbe es diese Gletscher 20 Jahre länger. Das wäre dann die Antwortzeit dieser Gletscher. Jeder Gletscher hat einen einzelnen Charakter und eine besondere Antwortzeit aufs Klima. Die Topografie, ist er schwarz, ist er weiß, ist es flach, wie ist die Eisformation usw. Es geht schnell, sehr schnell."
Für 40 Euro durch den Mont-Blanc-Tunnel, zehn Kilometer, Courmayeur, das Valle d'Aosta, das Aostatal, die italienische Seite des Massivs. Der erwähnte Planpincieux-Gletscher drohte vergangenen September/Oktober einzustürzen, 250.000 Kubikmeter Eis. Bereits im August rutschten 50 bis 60 Zentimeter in den unteren Bereichen ab - pro Tag. Straßen wurden gesperrt, Berghütten geschlossen.

Ein See aus Schmelzwasser im Jahr 2002

Macugnaga im Piemont, am Fuße des Monte Rosa. Der Gipfel leuchtet, wenn die Sonne ihn bescheint, tatsächlich rosarot.
"Früher wollte niemand auf den Gletscher, auf die Berge, auf die Hütten, es war ein hartes Leben, man musste alles auf dem Rücken hochschleppen, eine Seilbahn gab es nicht", sagt Teresio Valsesia. Er ist 80, war Bürgermeister von Macugnaga. Heutzutage kommen Alpinisten und Wanderer hierher, denn diese Seite des Monte Rosa ist geologisch ähnlich gestaltet wie das Himalaja-Gebirge.
Von der Sonne angestrahlte, rosa leuchtende, schneebedeckte Berggipfel.
Beliebt bei Wanderern und Alpinisten: der Monte Rosa.© picture alliance / Bildagentur-online / AGF-WhiteFox
Unterhalb des Belvedere-Gletschers – Belvedere heißt entweder Lusthaus oder Aussichtsturm – hatte sich ein See aus Schmelzwasser gebildet, erzählt Teresio Valsesia. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, auch unterhalb des Rhone-Gletschers liegt einer.
"2002 hatte sich dieser See gebildet, auf 2000 Meter Höhe. Er füllte sich, Tag um Tag, wir hatten Angst um uns und um Macugnaga, wenn der See geborsten wäre, wäre das Dorf überschwemmt gewesen. Nach zwei Jahren fand das Wasser einen natürlichen Weg, um abzufließen, dieser Alpensee war, verglichen mit anderen, riesig. Sehr ungewöhnlich, dieser Vorgang, doch dann war er glücklicherweise weg."
Der See verschwand. Das Wasser hatte einen natürlichen Abfluss gefunden.

Noch liegt auf dem Rhone-Gletscher Schnee

Wieder in der Schweiz, am Rhone-Gletscher, ein Talgletscher wie so viele, auf der Grenze der Kantone Uri und Wallis. Der Rhone-Gletscher heißt so, weil die Rhone aus ihm entspringt. Die Eisgrotte des Rhone-Gletschers ist die einzige Eisgrotte der Alpen, die in Privatbesitz ist, im Besitz der Familie Carlen, in vierter Generation.
"Also vor rund 150 Jahren war der Gletscher knapp 100 Meter hinter diesem Glacier-du-Rhone in Gletsch, Gletsch ist ein Sommerort, wo sich die zwei Pässe Grimsel und Furka gabeln", sagt Phillip Carlen. "Und kurz davor war der Gletscher. Und jetzt, diese drei Kilometer in rund 150 Jahren, ist er zurückgeschmolzen auf die Höhe vom Belvedere, dort, wo das jetzige Hotel Belvédère ist."
Zurzeit ist die Eisgrotte zu, ebenso wie der Gletscherlehrpfad, der Souvenirladen und das Snack-Buffet und das Hotel Belvédère. Corona. Und die Aussagen von Phillip Carlen. Ebenfalls 13 Jahre alt.
"Wir sehen jetzt, dass auf dem Gletscher noch Schnee liegt, teilweise ist der Gletscher ganz leicht rötlich, er hat eine rötliche Färbung, das ist Sahara-Staub, der vom Jet-Stream in einer Höhe von 10 Kilometern von der Sahara verfrachtet wird und sich dann hier als rötliche Verfärbung im Schnee absetzt, auf dem Eis."
Es gibt Bilder, die den Rhone-Gletscher dokumentieren. Letztlich sind fast alle Gletscher künstlerisch oder fotografisch festgehalten. Außerdem ist die maximale Ausdehnung aus dem Jahr 1856 gut zu erkennen, anhand glattgeschliffener kahler Felsen sowie des abgelagerten Moränenmaterials. Die Schweiz wird als das Wasserschloss Europas gesehen – wenn die Schweiz kein Wasser mehr hat, hat ganz Europa kein Wasser mehr.
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