Schweigen und Verschweigen

04.03.2010
Harriet Köhler erzählt eine sehr deutsche Familiengeschichte. Sie verknüpft in dem Roman "Und dann diese Stille" die Lebenslinien von drei Generationen, vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart, von der ostdeutschen Provinz in die westdeutsche Provinz. Zentrum und zugleich Leerstelle sind die Großeltern Walther und Grethe. Mit Grethes Sterben beginnt der Roman, mit dem Tod Walthers endet er.
Wie in den Geschichten rechtschaffener deutscher Familien üblich, ist das Verhältnis der Mitglieder untereinander vom Schweigen und Verschweigen geprägt. Grethe, deren Leben durch die Schilderung ihres Mannes, ihres mittlerweile 68-jährigen Sohnes Jürgen und durch den Enkel Nicki plastisch wird, war sowohl Mittelpunkt der Familie, als auch ein verletzter Mensch. Sie musste die Vergewaltigung durch Soldaten der russischen Armee ertragen und konnte ihren Mann, der erst 1950 aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt war, nicht mit der Freude in die Arme nehmen, die er sich in all den Jahren erhofft hatte. Außer mit ihrer Freundin Lotte Henschel sprach sie mit niemandem über ihr traumatisches Erlebnis.

Es ist für diese Lebensläufe symptomatisch, dass es mit der Freundschaft zwischen Grethe und Lotte aus war, als sie den Henschels in den Westen gefolgt waren und diese ihnen sogar das Nachbargrundstück preiswert überlassen hatten. Dankbarkeit ist ein Begriff, der fremd ist, wie die außerhalb liegende Welt. Der Sohn Jürgen, von der Mutter die ersten zehn Jahre allein aufgezogen und aus dieser Mutter-Sohn-Einheit nie entlassen, scheitert in seiner Ehe.

Genau, geduldig und in der Langsamkeit quälend dargestellt, darauf bedacht, die kleinbürgerliche Realität, ihre wohlbekannten Mechanismen abzubilden und als psychologisches Gefüge plausibel zu machen, ordnet die Autorin die Sprache dem Thema über zwei emotional verdorrte Männer unter, die sich wie fremde Tiere umschleichen und belauern. Alles, was der träge Jürgen richtig zu machen glaubt, ist in den Augen des Greises überflüssig, störend und falsch.

Dass auch Nicki unfähig ist, seiner Verlobten Ruth etwas über seine Familie, seine Trauer beim Tod der Großmutter zu erzählen, ist die Konsequenz familiärer Verstrickung, der Harriet Köhler in diesem düsteren Buch nachgeht. Sie tut das mit psychologischer Schärfe und Gnadenlosigkeit. Die betont realistisch erzählten Sätze und Dialoge des Romans sind schmucklos, "Und das langweilt dich", fragt Ruth und Nicki antwortet: "Nein. Was dann? Nicki zuckte mit dem Schulter und drehte die Tasse vor sich um 180 Grad."

Jeder einzelne Satz ordnet sich dem unaufgelösten Verhältnis der Familienmitglieder zueinander unter. Harriet Köhler ist erst 33 Jahre alt. Ihr Roman hat einen abgeklärten, schmucklosen Ton. Die Autorin beweist Mut, wenn sie dieses kleine Familiendrama in seiner alltäglichen Schrecklichkeit mit diesem aufrichtigem Ernst darstellt. Mit Nickis Verlobter Ruth führt sie eine Hoffnungsfigur und die positive Energie der Liebe ein, von der die beiden alten Männer vielleicht geträumt, aber wenig erfahren haben.

Harriet Köhlers Roman ist wieder eine der vielen Abhandlungen über die Wunden des Zweiten Weltkriegs und über die Unmöglichkeit, aus dem Gefängnis der Gefühle zu entkommen. Leicht zu ertragen ist das nicht.

Harriet Köhler, geboren 1977 in München, studierte Kunstgeschichte und besuchte die deutsche Journalistenschule. In ihrem Debütroman "Ostersonntag", der 2007 erschien, erzählte Harriet Köhler ebenfalls die Geschichte einer schweigsamen Familie.

Besprochen von Verena Auffermann

Harriet Köhler: Und dann diese Stille
Verlag Kiepenheuer& Witsch, Köln 2010
314 Seiten. 19,95 Euro.