Schwarz-rote Halbzeitbilanz

Politik ohne Blick für die Zukunft

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lachen während einer Unterhaltung in Meseberg (Brandenburg) bei der Klausurtagung des Bundeskabinetts.
Die Stimmung ist gut - die Leistung auch? Kanzlerin Merkel (CDU) und Vizekanzler Gabriel (SPD) auf der Klausurtagung des Bundeskabinetts. © dpa picture alliance / Maurizio Gambarini
Von Stefan Maas · 22.09.2015
Die Koalition von CDU und SPD hat die hälfte ihrer Regierungszeit hinter sich. Schwarz-Rot habe zu wenige Zukunftsthemen angepackt, meint der Grünen-Politiker Dieter Janecek. Kritik kommt auch aus den eigenen Reihen.
"Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren."
Bundestag. September 2015. Haushaltsdebatte. Der Kanzlerinnenetat ist traditionell die Bühne für Abrechnungen und Eigenlob.
"Unsere Wirtschaft ist stark, unser Arbeitsmarkt robust."
Angela Merkel ist ans Rednerpult getreten.
"Und ein entscheidender Grund, bei weitem nicht der einzige, aber ein entscheidender Grund, warum Deutschland stark ist, liegt auch in der soliden Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung."
Zum dritten Mal kann sie als Regierungschefin Halbzeitbilanz ziehen. Zum zweiten Mal in einer Großen Koalition unter ihrer Führung.
"Nachhaltige Haushaltspolitik eröffnet eben auch Spielräume, Möglichkeiten für zukunftsorientierte Investitionen. Und wir haben hier wichtige Impulse gesetzt. Bei der Infrastruktur, bei der Forschung und Entwicklung, in der Klimapolitik und im digitalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft."
"Ich bin immer einer, der auch gerne lobt, wenn was zu loben ist ..."
... sagt Dieter Janecek. Der Grüne sitzt seit Beginn dieser Legislaturperiode im Bundestag.
"Die Wirtschaftslage in Deutschland, die ist gut, das kann man nicht bestreiten, da sollte man sich im Gegenteil freuen. Die Frage ist, was hat jetzt diese Regierung konkret dazu beigetragen? Oder wo hat sie denn Investitionen getätigt, die in die Zukunft weisen? Da kann ich wenig bis gar nichts erkennen."
Zu wenige Zukunftsthemen auf der Agenda
Die Energiewende wäre so ein Zukunftsthema, findet der Grüne. Eine gute Gelegenheit, Ökologie und Ökonomie zusammenzudenken. Manches läuft: Die Leistung von Off-Shore-Windparks soll sich dieses Jahr verdreifachen. Aber: CSU-Chef Horst Seehofer sperrt sich gegen Stromtrassen, die Windstrom vom Norden in den Süden bringen sollen.
"Die Große Koalition ist beim Thema Energiewende sich sehr uneins. Es gibt im Ministerium Gabriel manche, die wollen da progressiv vorangehen. Wir haben mit Rainer Baake da ja auch einen grünen Staatssekretär, der versucht, die Energiewende in die richtige Richtung zu lenken. Es gibt insbesondere in der Union, aber auch in Teilen der Kohle-SPD viele, die das alte System bewahren wollen."
Dabei wäre jetzt die Zeit, den Kohleausstieg voranzutreiben, sagt Janecek. Kein Pluspunkt für die Große Koalition. Immerhin: Finanzminister Schäuble kommt ohne neue Schulden aus.
Schäuble: "Na gut, die schwarze Null ist ein bisschen überhöht, aber so ist das in der Politik, in der Kommunikation, man braucht bestimmte Symbole."
Janecek: "Wolfgang Schäuble brüstet sich mit der schwarzen Null, er ist aber der größte Ausgabenvermehrer der letzten Jahrzehnte. Vier Prozent mehr Ausgabenwachstum jedes Jahr. Also, wir haben volle Kassen, aber das Geld wird irgendwann auch mal weg sein, und es wäre gut, wenn man es richtig investiert."
Kein Lob vom Oppositionspolitiker für die erste Halbzeit der Legislaturperiode. Nächster Stopp: Einmal über die Wilhelm-Straße. Hier hat Carsten Linnemann sein Büro.
"Also, ich bin froh, dass es noch eine zweite Halbzeit gibt."
Linnemann sitzt seit 2009 für die CDU im Bundestag. Seit 2013 ist er Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU.
"Man muss ehrlicherweise sagen, dass wirklich die Themen der Zukunft, wo es nicht um Wirtschafts- oder Lobbyinteressen geht, sondern wirklich um die Zukunft dieses Landes - Stichwort Digitalisierung, Demografie - dass da einfach zu wenig bis gar nichts getan wurde."
Dafür einiges für die eigenen Wähler. Stichwort Mütterrente: die wollte die Union. Kosten dieses Jahr: rund sieben Milliarden Euro.
"Was mich ärgert, dass wir bei dem Thema Flexirente nicht weiterkommen. Es gibt viele Menschen, die wollen freiwillig länger arbeiten. Und wir verhindern das faktisch. Wir haben eine Große Koalition, wir hätten alle Möglichkeiten. An dieser Stelle blockt die SPD, meines Erachtens zu Unrecht, weil sie alles verhindert, was längeres Arbeiten bedeutet."
Stattdessen: Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren. Das SPD-Pendant zur Mütterrente. Fehlanzeige hingegen bei der Industrie 4.0, findet Carsten Linnemann. Bei den Start-ups sieht er eher Stopp als Start:
"Es fehlt ein Gesetz für Risikokapital, es fehlt ein Gründerklima, es fehlt an der Kultur der zweiten Chance. All diese Themen werden meines Erachtens nicht richtig angepackt."
Kaum Innovationen im Bereich Digitalisierung
Beim Zugang zu W-Lan im öffentlichen Raum hinkt Deutschland ebenfalls hinterher, selbst wenn das Kabinett gerade Verbesserungen beschlossen hat. Und schnelles Internet ist in vielen Regionen noch immer Wunsch statt Wirklichkeit. Beim Thema Internet muss Deutschland aufholen, urteilt auch Dieter Janecek:
"Da hat Deutschland 2014 den Digitalausschuss geschaffen, dem ich auch angehöre, aber das ist sehr, sehr spät. Und was die Infrastruktur angeht, also eine schnelle Breitbandanbindung insbesondere im ländlichen Raum, damit auch Unternehmen sich entwickeln können, auch da ist es sehr zäh, auch da könnte man viel mehr tun."
Zwar fordert die CDU in einem Antrag für Ihren nächsten Parteitag einen Rechtsanspruch auf schnelles Internet. Zitat für "jeden Schwarwaldhof". Viele Bundesländer kritisieren allerdings die Ausbau-Pläne von Verkehrsminister Alexander Dobrindt als unzureichend. Auch sonst macht der Verkehrsminister keine allzu starke Figur:
"Ja, das war jetzt freundlich von mir, dass ich die Maut bisher nicht erwähnt habe."
Andrea Nahles, die Arbeitsministerin hingegen hat sich als durchsetzungsstark erwiesen.
Nahles: "Der Mindestlohn wirkt."
Linnemann: "Ich bekomme hier gar nicht bis kaum Mails, wo die 8,50 Euro bemängelt werden. Da hatten wir ja, das gebe ich auch offen zu, die Sorge, dass wir alle zwei, drei Jahre einen Überbietungswettbewerb in den Wahlkämpfen haben. Das findet jetzt aber nicht statt, weil es eine eigenständige Kommission gibt, deshalb ist das in Ordnung."
Wäre da nur nicht die überbordende Bürokratie, bemängelt Linnemann. Nahles selbst hat ein ganz anderes Problem. Die Umsetzung muss kontrolliert werden. Dafür wurde der Zoll personell aufgestockt. Finanzminister Schäuble, der oberste Zoll-Verantwortliche, hat jedoch gerade erklärt: Dieses neue Personal braucht man erst einmal für die Flüchtlinge. Für den Mindestlohn bleibt da keine Zeit.
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