Schutzengel des Teufels

01.03.2010
Der Autor Dieter Kühn nimmt Hitlers Wort von der "Vorsehung", die ihn acht Attentatsversuche überstehen ließ, ernst und macht dessen "Schutzengel" zum Protagonisten der Haupterzählung seines neuen Prosabandes.
Ganz klar, der Titel irritiert. Schon wieder, so fragt man sich, ein Beitrag zu der Flut von Bekenntnisliteratur, in der die letzten Augenzeugen des "Tausendjährigen Reiches" angeblich authentisch aus dem Machtzentrum des Diktators berichten? Stammt sie am Ende aus den Quellen der SS-Leibstandarte, die Hitlers Leben geschützt hat? Doch da der Autor Dieter Kühn heißt, von dem man weiß, dass er in seinen Biografien schon immer Fakten und Fiktionen im Dienste einer höheren Wahrheit vermischte, darf man getrost ein literarisches Spiel vermuten.

Kühn nimmt Hitlers Wort von der "Vorsehung", die ihn acht Attentatsversuche überstehen ließ, ernst und macht dessen "Schutzengel" zum Protagonisten der Haupterzählung seines neuen Prosabandes. Aus dem Rückblick lässt er den "Geflügelten", der seit Kriegsende fernab allen göttlichen Beistands Unterschlupf in der Ruine des Anhalter Bahnhofs gefunden hat, noch einmal protokollieren, wie er die jeweiligen Anschläge auf das Leben des Diktators vereitelt hat. Zu seinen Hilfsmitteln etwa gehörte ein Eishauch, mit dem er den Zünder an der Bombe Henning von Tresckows gefrieren ließ, was ihre Explosion verhinderte. Eine besondere Fertigkeit entwickelte er darin, Hitlers "innere Stimme" zu mimen, die den "Schützling" beizeiten zu warnen wusste.

Akribisch genau, wie ein Bürovorsteher, listet er die einzelnen Stationen seiner Tätigkeiten auf in der Absicht, die Zweifel über die Rechtmäßigkeit seines Tuns auszuräumen. Musste er nicht effizient arbeiten, und hatte er als Schutzengel überhaupt eine andere Wahl? "Dieses eine Leben, das ich wiederholt gerettet habe, ich weiß, ich weiß, es kostete Millionen Menschen das Leben. Aber da wird man wohl mal fragen dürfen: Wo sind denn die Schutzengel all der Opfer geblieben?"

Weil er seit 50 Jahren vergeblich auf die nachträgliche Legitimation von ganz oben wartet, gewinnen seine selbstkritischen Befragungen an Dringlichkeit. Die lässt ihn Kühn mit geradezu maliziösem Vergnügen anstellen. Dabei wechselt er oft von einer Zeile zur nächsten die Sprachebenen, das wackere Beamtendeutsch, in dem "Schriftsätze und saubere Trennung", Zuschreibungen und korrekte Pflichterfüllung herrschen, geht nahtlos über in heilsgeschichtliche Räsonnements zum Schöpfungsplan und darüber, ob man als Engel vielleicht Gottes Stimme nicht mehr vernimmt, weil man vermutlich zu viele Wörter und Kürzel der NS-Sprache inhaliert habe.

Da Dieter Kühn literarische Abenteuerspiele liebt, spekuliert er mit ähnlichem Witz in den weiteren drei Prosastücken des Bandes darüber, was passiert wäre, wenn seine Titelfigur nicht so gut aufgepasst hätte: Ein Loblied auf den Konjunktiv, der möglicherweise der Welt Krieg und Holocaust erspart hätte. So bietet Kühns fabelhafte Mixtur aus Fakten, Hypothesen und Wunschvorstellungen mehr als eine gute Satire. Sie ist eine klug angelegte, überaus komische Lockerungsübung für unseren Umgang mit den Unabänderlichkeiten der Geschichte.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Dieter Kühn: Ich war Hitlers Schutzengel. Fiktionen.
S.Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2010
206 Seiten, 17,95 Euro