"Schroff und ungeschminkt und möglichst direkt "

Karl Ove Knausgard im Gespräch mit Joachim Scholl · 24.06.2011
Seine Autobiografie "Min Kamp" wollte der Norweger Karl Ove Knausgard ehrlich und ungeschönt verfassen, auch auf die Gefahr hin, Angehörige und Freunde zu beleidigen: Seine erste Frau hat ihn angezeigt und die Familie seines Vaters will nicht mehr mit ihm sprechen.
Joachim Scholl: In Norwegen der größte Bestseller seit Jahrzehnten mit Hunderttausenden verkauften Exemplaren, mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt, sechs Bände mit fast 3.000 Seiten, das ist "Min Kamp", wie der Schriftsteller Karl Ove Knausgard sein autobiografisches Romanriesenwerk getauft hat. Bei uns ist in diesem Frühjahr der erste Band unter dem Titel "Sterben" erschienen. Und so beginnt das Buch.

Vorleser: "Für das Herz ist das Leben einfach. Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es – früher oder später an dem einen oder anderen Tag hört seine stampfende Bewegung ganz von alleine auf, und das Blut fließt zum niedrigsten Punkt des Körpers, wo es sich in einer kleinen Lache sammelt, von außen sichtbar als dunkle und feuchte Fläche unter der beständig weißer werdenden Haut – während die Temperatur sinkt, die Glieder erstarren und die Gedärme sich entleeren.

Diese Veränderungen der ersten Stunde geschehen so langsam und werden mit solcher Sicherheit vollzogen, dass ihnen fast etwas rituelles innewohnt, als kapitulierte das Leben festen Regeln folgend in einer Art 'Gentleman's Agreement', an das sich auch die Repräsentanten des Todes halten, indem sie stets abwarten, bis sich das Leben zurückgezogen hat, ehe sie ihre Invasion der neuen Landschaft beginnen. Dann jedoch ist sie unwiderruflich.

Die riesigen Bakterienschwärme, die sich im Inneren des Körpers ausbreiten, hält nichts mehr auf. Hätten sie es nur ein paar Stunden früher versucht, wären sie augenblicklich auf Widerstand gestoßen, doch nun ist ringsum alles still, und sie dringen fortwährend tiefer in das Feuchte und Dunkle vor."


Scholl: "Sterben" – der Beginn des Buches von Karl Ove Knausgard, Teil einer sechsbändigen Romanautobiografie, die nicht nur in Norwegen, der Heimat des Autors, als literarische Sensation gefeiert wird. Ich begrüße jetzt Karl Ove Knausgard im Studio. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, wir unterhalten uns auf Englisch – welcome to Deutschlandradio Kultur, Mister Knausgard.

Karl Ove Knausgard: Thank you.

Scholl: Sie sind Jahrgang 1968, also erst 43 Jahre alt – wieso schreibt man in diesem Alter schon eine Autobiografie, und dann auch noch gleich in sechs Bänden?

Knausgard: Ich habe mit dem Schreiben in dem Jahr angefangen, bevor ich 40 Jahre alt wurde. Es ist also sozusagen eine Art Midlife-Crisis, die mich dazu gebracht hat, das Buch zu schreiben. Genau in demselben Alter übrigens, in dem mein Vater uns, die Familie verlassen hat; daran erinnere ich mich noch sehr gut. Ich habe jetzt auch eigene Kinder, es gelingt mir also sehr viel besser, mich mit meinem Vater zu identifizieren, und damit auch die Geheimnisse der Vergangenheit aufzuklären.

Ich glaube auch nicht, dass es davon abhängt, wie alt man ist, wie viele Seiten man über sein Leben schreiben kann. Man kann, wenn man will, auch dicht gepackt und reich entfaltete 3.000 Seiten über eine einzige Woche im eigenen Leben schreiben. Darauf kommt es letztlich an. Nicht, wie viel man erlebt hat, sondern wie tief man es erlebt hat.

Scholl: "Sterben" – in diesem ersten Band geht es wesentlich um ihren Vater, um seinen Tod, und Sie beschreiben ihre Kindheit in diesem Zusammenhang auch, Karl Ove Knausgard, die Auseinandersetzung mit dem Vater, seiner Strenge, seinem Alkoholismus, schließlich seinem furchtbaren Verfall in Dreck und Müll, und das gleichzeitig in einem Stil, in einem sehr harten, knochentrockenen Stil – wobei man doch nicht das Gefühl hat, dass Sie ein unglückliches Kind gewesen sind. Waren Sie es doch?

Knausgard: Tja, das ist schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass ich eigentlich ein unglückliches Kind war, aber mein Leben war schwer. Warum? Weil ich eben so empfindlich war, so sensibel. Wenn ich weniger empfindlich gewesen wäre, hätte ich all diese Probleme mir nicht eingehandelt. Dieser Zusammenhang wurde mir erst mit 30 Jahren klar. Und mein Vater war auch so sensibel und hatte die gleichen Probleme. Das kann ich jetzt erkennen. Und – ja, ich war eigentlich nicht unglücklich, aber ich hatte jede Menge Schwierigkeiten.

Mein Vater war gewissermaßen ein Tyrann – ich habe immer drauf geachtet, wo er sich gerade aufhielt, in welcher Stimmung er gerade war; ich habe mich immer bemüht, abzulesen, was jetzt wieder mit ihm los war. Ich versuchte irgendwie, meinen Weg um ihn herum zu bahnen. Ich wollte ihm ständig gefallen, ich wollte schlau dastehen, ich wollte aller Welt irgendwie angenehm erscheinen.

Und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich jetzt dieses Buch geschrieben habe. Ich möchte diese ganze Fassade einbrechen. Ich möchte nicht mehr so klug sein, ich möchte nicht mehr "everybody's darling" sein. Nein, ich möchte einfach das feststellen, was gewesen ist, schroff und ungeschminkt und möglichst direkt – auch auf die Gefahr hin, dass ich damit alle meine Angehörigen, meine Freunde, meine Familie beleidige.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgard. Nun ist es offensichtlich ihre Autobiografie. Dennoch steht Roman auf dem Cover. Wie viel Fiktion, wie viel Erfindung steckt in den Bänden? Oder: Wie ehrlich sind Sie, Herr Knausgard?

Knausgard: Ich habe die Bezeichnung Roman gewählt. Mich interessiert es nicht, mein Leben mit Belegen zu dokumentieren oder die Tatsachen als solche festzuhalten. Ich habe tatsächlich einen Roman geschrieben, mit meinem eigenen Leben als Rohstoff. Mein eigenes Leben spielt sich also darin ab; die Ereignisse sind alle geschehen, die Namen, die vorkommen, sind echt. Zugleich aber stütze ich mich auf Erinnerung.

Erinnerung führt natürlich zu einer Veränderung, sie korrumpiert, sozusagen, das Schreiben. Das Schreiben selbst übernimmt nach und nach die Steuerung des gesamten Buches, sodass man sich dann fragen muss: Was ist daran echt und was nicht? Ich habe also das Buch eigentlich mit dem Vorsatz angefangen, gar keine Rücksicht zu nehmen, nur das niederzuschreiben, was in meinem Kopf ist. Dazu aber brauchte ich die Erinnerung. So ist das also wesentlich auch ein Buch der Erinnerungen.

Scholl: Alles ist geschehen, alle Namen sind authentisch, und Sie sagten vorhin schon, Herr Knausgard, dass Sie damit auch riskieren, andere Leute zu kränken. Ihr Buch ist in ihrer Heimat die literarische Sensation, jeder kennt Ihren Namen – und es gibt eben auch Ärger, weil sich die geschilderten handelnden Personen wiedererkennen. Ihre erste Frau zum Beispiel hat Sie öffentlich scharf kritisiert, sogar angezeigt. Wie gehen Sie mit solchen Reaktionen, mit dieser Art von Ruhm um?

Knausgard: Nun, zunächst einmal habe ich dieses Projekt mit dem Vorsatz begonnen, das ganz für mich zu machen, nur über mein Leben zu schreiben. Dann merkte ich recht bald, dass es unmöglich war, nur über mich zu schreiben, ohne auch über andere zu schreiben. Als ich das gemerkt hatte, schrieb ich die verschiedenen Menschen, die in dem Buch vorkommen sollten, an, und fragte, ob ich sie mit Namen nennen dürfe und ob sie in dem Buch vorkommen wollten, und diejenigen, die das ablehnten, bei denen habe ich dann die Namen verändert.

Das ist bei der Familie meines Vaters so gewesen. Meine frühere Frau hingegen hatte zugestimmt, sie sagte: Ja. Und jetzt hat sie natürlich diesen Ruhm an der Hacke. Damit hat sie wohl zu kämpfen, dass soviel Gewirr und Gewese um dieses Buch und um sie gemacht wird. Die Journalisten rufen bei ihr an – das ist ein Roman, bei dem man die Gestalten anrufen kann, die Bilder der Personen erscheinen in den Zeitungen, die Namen erscheinen. Und dieses Geschehen übt enormen Druck auf meine Frau aus. Ich habe das so nicht geplant und nicht erwartet, aber so ist es eben gekommen.

Anders liegt die Situation bei der Familie meines Vaters, dort ist es nicht so auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie wollten ja ohnehin nicht, dass ich über meinen Vater schreibe. Sie sind empört – ich wollte schreiben, und wir haben keine Beilegung dieses Konflikts gefunden. Seine Familienangehörigen wollen mit mir nicht mehr sprechen, sie wollen mich auch nicht mehr sehen. Ich dagegen sage: wenn ich schon nicht mehr über meinen Vater schreiben kann, worüber soll ich dann überhaupt schreiben?

Ich finde es sehr traurig, aber ich habe diese Situation so nicht gewollt. Es ist nicht meine Entscheidung gewesen.

Scholl: Geben Sie uns jetzt vielleicht einen Ausblick, Herr Knausgard, für uns deutsche Leser: Der erste Band ist auf Deutsch erschienen, es kommen jetzt noch fünf. Wie spannen Sie den Bogen vom ersten Band bis zum letzten, was kommt noch?

Knausgard: Der zweite Band behandelt Liebe, wie ich mich in meine spätere Frau verliebt habe, wie wir dann drei Kinder bekommen haben. Ich versuche, die Geschichte so zu erzählen, wie sie vorgefallen ist. Meine Frau war entsetzt darüber und hat dann gesagt: Das war es dann wohl mit der Romantik. Ich habe aber versucht, so ehrlich wie möglich zu sein.

Im dritten Buch geht es um die Kinder, wie sie größer werden. Im vierten Buch geht es um die Banalität der Jugend. Das fünfte Buch ist ein Bildungsroman, wie sind wir die geworden, die wir sind? Warum bin ich hier?

Scholl: Karl Ove Knausgard, danke für Ihren Besuch und das Gespräch!

Knausgard: Thank you very much!

Scholl: "Sterben", der erste Teil seiner sechsbändigen Romanautobiografie ist in deutscher Übersetzung im Luchterhand-Verlag erschienen, mit 573 Seiten zum Preis von 23 Euro. Der nächste Band kommt auf Deutsch im kommenden Frühjahr heraus, und Karl Ove Knausgard hat uns schon verraten, es wird um die Liebe gehen, und der Band trägt dann auch entsprechend den Titel "Lieben". Und dieses Gespräch mit Karl Ove Knausgard hat für uns Johannes Hampel übersetzt.

Linktipp:
Sein Kampf - Karl Ove Knausgard: "Sterben", Roman, Luchterhand Verlag, eine Rezension im "Radiofeuilleton" von Deutschlandradio Kultur
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