Schriftstellerkongress 2016

Europa erfährt sich in vielen Erzählungen

Die blaue Europaflagge mit 12 gelben Sternen im Kreis weht im Wind.
"Europa ist nicht etwas, das wir ablehnen können", schreibt Mely Kiyak. "Wir sind ja schon da. Unsere Länder, Völker, Kulturen, Sprachen." © dpa / Jens Kalaene
Von Mely Kiyak · 10.05.2016
Nicht einem einzigen politischen Narrativ über Europa, sondern nur vielen persönlichen, unterschiedlichen Erzählungen über Geschichte und Kultur gelinge es, das Zerrbild vom "fremden Nachbarn" zu entlarven, meint Mely Kiyak, Berliner Publizistin und Ko-Organisatorin des Europäischen Schriftstellerkongress in Berlin.
Wahr ist auf jeden Fall, dass die Europäer denken, dass sie eine gemeinsame Vorstellung davon bräuchten, was dieses Europa sein soll, wenn es eines Tages fertig ist. Was es sein könnte. Es fehlt, wie es immer so schön heißt, ein Narrativ. Eins, auf das sich alle einigen können. Europa trägt keine Story in sich. Und es scheint, als ob es wahr ist.
Nur, wer könnte diese Story erzählen? Die Politiker? Deren Narrative funktionieren mit seltsamen Satzgebilden. "Wir müssen für Europa werben", lautet einer dieser Slogans aus dem Polit-PR-Sprach-Labor.
Stimmt das? Muss man für Frieden und Freiheit und Einheit werben, als handele es sich um eine Tube Tomatenmark? Vorzüge hervorheben und Nachteile verschweigen. Nach den Regeln der Werbespotindustrie verfahren?

Europa kann man nicht ablehnen oder befürworten

Dann wieder heißt es, man dürfe die Risiken und Nachteile nicht verschweigen. Denn in einer Transparenzgesellschaft wollen die Bürger Rechenschaft abgelegt bekommen. Am Ende kommen dann immer Sätze heraus, die man so zusammenfassen kann: Europa ist schön, kostet aber viel Geld, Zeit und Mühe.
Das wäre in der Tat etwas, bei dem man abwägen und sagen kann: Nein, danke. Ich nehme es lieber nicht.
Aber Europa ist so nicht. Es ist nicht etwas, das wir ablehnen können oder befürworten. Wir sind ja schon da. Unsere Länder, Völker, Kulturen, Sprachen, es ist alles vorhanden. Es gibt uns nicht erst, seit den Römischen Verträge von 1957.
Wir tragen eine fortlaufende Geschichte mit uns. Wir sind die Story. Das ist Europa. Ein Roman mit fortlaufenden Kapiteln.

Gemeinsame Geschichte erzählt sich als fortlaufender Roman

Nur brauchen wir offenbar jemanden, der uns das permanent erzählt. Der uns zeigt, wer wir sind und was wir waren. Das ist dann nichts mehr, von dem man sich abwenden kann. Wir nennen es Historie. Die Kriege, die Katastrophen, die großen gesellschaftlichen Konflikte. Wer nicht vollkommen verblödet ist, und dieser Geschichte zuhört, kann unmöglich noch sagen: Ich bin gegen Europa. Ich bin gegen offene Grenzen. Ich bin gegen Zuzug.
Das ergibt keinen Sinn. Es ergibt wirklich keinen Sinn. Der Rechtspopulismus ist eine Ideologie, die sich im Wesentlichen von Amnesie ernährt. Vom Vergessen und Verdrängen und Vertuschen. Wie kann man nach Stalinismus und Faschismus ernsthaft Flüchtlinge ablehnen? Wie kann man nach Konzentrationslagern noch ernsthaft von Fremden sprechen, die unsere Kultur bedrohen?
Das ist das große Versäumnis dieser Zeit. Die Geschichtsschreibungen der Rechten nicht permanent zu rezensieren und ihnen formale Fehler in ihrem Storytelling nachzuweisen. Weil es einem manchmal zu doof ist, sich herab zu lassen und zu sagen: "Entschuldigen Sie bitte, Herr Neofaschist. Aber das gibt es nicht: Den Fremden. So wie es auch den Arier nie gab und die Rasse. Aufregende Geschichten, zugegeben. Aber Science Fiction".

Science Fiction über den Fremden darf nicht viel Raum einnehmen

All das Gute, auf das wir heute zu Recht stolz sind - Rechtsstaatlichkeit, Humanismus festgeschrieben in Gesetzen, Freiheit für den Einzelnen und die Presse – all das Gute ist einen beschwerlichen Weg gegangen. Immer im Konflikt gegen die Religionen, gegen die Mehrheitsmeinungen und so fort..
Dieses Europa hat viele Erzählperspektiven. Es gibt nicht die Wahrheit, im Sinne von Europa ist gut oder schlecht, sondern, wie hat der Einzelne es empfunden. Wie ein Volk? Ein Land? Eine Opposition?
Die Sichtweisen über das, was beispielsweise die DDR war, reichten von der heiteren "Sonnenallee" bis zum düsteren "Leben der Anderen". Christa Wolf erzählte die DDR anders, als das Ehepaar Strittmatter. Die DDR einer Sahra Wagenknecht war offensichtlich eine andere als die eines Roland Jahn. Alles eine Frage der Perspektive, des Alters, der inneren Verfasstheit.
Und so bleibt nur, der Science Fiction der mächtigen rechten Allianzen nicht so viel Raum zu lassen, sondern durch mehr und andere Erzählungen zu erweitern und die Bibliothek der Europäer fortwährend zu ergänzen.

Mely Kiyak ist Kolumnistin und Autorin. 2011 wurde sie mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr erschien "Ein Garten liegt verschwiegen… Von Nonnen und Beeten, Natur und Klausur". Es folgten die Bücher "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schönes Teil des Lebens an" und "Istanbul Notizen" (beide 2013).

Sie schrieb politische Kolumnen für die "Frankfurter Rundschau" und die "Berliner Zeitung", die im Band "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten" (2013) versammelt sind. Seit 2013 erscheinen ihre politischen Kolumnen "Kiyaks Deutschstunde" auf ZEIT Online und "Kiyaks Theater Kolumne" für das Gorki Berlin. Ihr Theaterstück "Aufstand" (UA Staatsschauspiel Karlsruhe) wird derzeit im Gorki aufgeführt. Für die Bühnenshow "Hate Poetry" wurde sie 2015 als Journalistin des Jahres ausgezeichnet.

Die Journalistin Mely Kiyak
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