Schriftstellerin Mira Magén zur sozialen Spaltung in Israel

"Wir müssen die Ressourcen gerechter aufteilen"

Blick über Tel Aviv
In Israel explodieren die Mieten und Immobilienpreise - Wohnen wird für viele unbezahlbar. © imago/Westend61
Mira Magén im Gespräch mit Frank Meyer · 13.04.2018
Gentrifizierung, Wohnungsnot und Ausbeutung: In Israel verschärft sich die soziale Spaltung, sagt die Schriftstellerin Mira Magén. Jede Bevölkerungsgruppe kämpfe um ihre eigenen Interessen. Es fehle an einer gemeinsamen Sozialpolitik.
Frank Meyer: Wer entscheidet darüber, wer wo leben darf, wer wo wohnen darf in einer Stadt oder auch in einem Land? Über dieses Thema hat die israelische Schriftstellerin Mira Magén mit ihrem deutschen Kollegen Clemens Meyer gesprochen bei den Deutsch-israelischen Literaturtagen, die finden gerade in Berlin statt. Dieses Thema Wohnungsnot, kaum noch bezahlbare Mieten, verfehlte Sozialpolitik - das spielt auch im jüngsten Roman von Mira Magén eine große Rolle. "Zu blaue Augen" heißt dieser Roman. Ich habe vor der Sendung mit Mira Magén gesprochen und sie zuerst gefragt: Ihre Bücher sind Bestseller in Israel, können Sie sich denn die Wohnung in Israel leisten, die Sie gerne haben wollen?
Mira Magén: Ich hab Glück gehabt, und ich denke, dass dafür vor allem drei Faktoren verantwortlich sind. Es gibt drei Faktoren, die in Israel die Fähigkeit beeinflussen, ob man in der Lage ist, jetzt ein Haus zu kaufen oder eine Wohnung oder nicht. Ein Grund ist, dass, wenn die Eltern zum Beispiel Veteranen gewesen sind oder wenn sie Neuankömmlinge gewesen sind. Ein zweiter Grund ist, was für eine Bildung man genossen hat. Der dritte ist die ethnische Herkunft. Israel ist ja ein Land der Einwanderer, es kamen immer wieder neue Gruppen aus verschiedenen Richtungen. Von Vorteil ist es, wenn man, wie ich, der Gruppe angehört, die kulturell eine westliche Orientierung hat. Wenn man in so eine Familie geboren wird, hat man sozusagen den Schlüssel zur Mobilität, sowohl, was den Status betrifft, als auch, was Wohnungen und viele Aspekte des Lebens betrifft. Meine Eltern haben die Sprache gesprochen, sie waren in der Lage, uns Studien zu ermöglichen. Sie haben uns unterstützt. Sie hatten eine europäische Einstellung. Anders ist das bei Familien, die aus einem nordafrikanischen oder einem arabischen oder anderen Hintergrund kommen. Die haben diese Mentalität nicht, die müssen das sozusagen erst lernen. Und das beeinflusst die Chancen zur Mobilität immens innerhalb der israelischen Gesellschaft. In Jerusalem habe ich deshalb das Glück, in einer guten Nachbarschaft leben zu können, in einer guten Gegend. Das liegt nicht an meinen Buchverkäufen. Von Büchern wird man in Israel nicht reich. Aber die genannten Faktoren haben dafür gesorgt. All das hat meinem Bruder, meiner Schwester und mir die Möglichkeit gegeben, so zu leben, wie wir das tun. Viele Kollegen und Freunde, die derselben Klasse angehören, haben diese Möglichkeiten nicht.

"So blaue Augen" - ein Roman über Altern und Ausgrenzung

Meyer: Wenn wir auf Ihren Roman schauen, "So blaue Augen", der letzte von Ihnen in Deutschland erschienene Roman, da geht es jetzt nicht hauptsächlich um Wohnungsnot und horrende Mieten und solche Fragen. Aber diese Themen tauchen schon auf in Ihrem Buch. Die Situation ist, da wohnt eine Witwe, Jona, mit ihren drei Töchtern und zwei weiteren Frauen in einem Haus in Jerusalem, auf das offenbar Immobilienspekulanten ein Auge geworfen haben. Was unternehmen jetzt diese Spekulanten in Ihrem Roman, um ranzukommen an dieses Haus?
Magén: Diese Leute betrügen die alte Frau. Sie schleusen einen Mann ein, der sich als Dichter ausgibt und ein Zimmer bei ihr mietet und versucht, sie dazu zu bringen, zu verkaufen oder auszuziehen. Aber eigentlich ist das nicht wirklich das Hauptthema des Romans. Ich bin auf die Figur der Hannah Jona gekommen, weil meine Mutter in einem ähnlichen Haus gewohnt hat, in einer ähnlichen Situation. Ein Haus von zwei Etagen. Und sie war sehr krank, körperlich, geistig aber noch total fit, und eine Rumänin hat sich immer um sie gekümmert. Ich habe sie oft besucht, aber dieser ganze Abschied vom Leben, dieser Zustand, den sie hatte, das war sehr aufgewühlt, sehr dramatisch, sehr traurig. Es fiel ihr sehr schwer. Es war ein zäher Abschied. Und im Gegensatz zu dieser Traurigkeit habe ich versucht, mit der Figur der Hannah Jona ein Gegenmittel zu kreieren, eine Person zu erschaffen, die das Altsein als etwas sieht, etwas Positives, als die letzte Chance, das zu tun, was wir wirklich tun wollen. Uns alle Freiheiten herauszunehmen, ohne Strafen zu befürchten, da die Gesellschaft einen ohnehin übersieht zu diesem Zeitpunkt. Diese Figur hat mir geholfen, mit der Traurigkeit meiner Mutter klarzukommen, mit diesem Leben, die das Altern so schwer nahm.
Die israelische Schriftstellerin Mira Magén
Das Glück ist sehr ungerecht verteilt, sagt Mira Magén.© Tamir Lahav-Tadlmesser
Meyer: Jetzt sind Sie ja hier zu Gast bei den Deutsch-israelischen Literaturtagen, die sich in diesem Jahr um das Thema Gerechtigkeit drehen. Deswegen werden Sie es mir nachsehen, wenn ich zuerst nach diesen Dingen frage, die eben in Ihrem Roman auch auftauchen. Sie haben gerade erwähnt die Pflegerin aus Rumänien, die sich da kümmert um diese ältere Frau, alte Frau. Ist das für Sie auch ein Thema der Gerechtigkeit, solche Arbeitsmigrantinnen, die ja zu Hause auch eine Familie zurücklassen, um dann anderswo mehr Geld zu verdienen und ihrer Familie auf diese Weise helfen zu können?
Magén: Dieses Thema beschäftigt mich in der Tag sehr. Das ist auch zurzeit ein wirklich akutes Problem in Israel, wie man mit der Arbeitsmigration umgeht. Und ich selbst gehöre zu der kleinen Gruppe, die glauben, dass man ihnen gestatten sollte, in Israel zu bleiben, diesen Leuten, dass man ihnen eigentlich helfen muss. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch danach strebt, sein Leben zu verbessern, voranzukommen. Wir haben hier das Glück, Wohnungen zu haben, einen Lebensstandard, und über all diese Dinge zu verfügen. Und diese anderen Menschen haben eben weniger Glück. Sie haben all das nicht, und deswegen denke ich, müssen wir ihnen helfen. Bei meiner Mutter hat eine rumänische Frau gearbeitet, die ihr im Alltag geholfen hat. Und immer, wenn ich sie gesehen habe, dachte ich an diese große Schicksalslücke, die da zwischen uns klaffte. Sie war eventuell sogar besser gebildet als ich. Dennoch musste sie ihr Land, ihre Familie, alles zurücklassen, um dieser fremden alten Frau zu helfen, der zu helfen sogar uns als Kindern schwer fiel. Also sie musste diese Arbeit machen. Ich weiß nicht, wie der Dirigent des Universums da die Lebenskarten verteilt, wer Glück hat und wer nicht. Aber ich denke immer an die, die die schlechten Karten erwischt haben.

In Israel wird heftig um Migration gestritten

Meyer: Und Sie sagen, sie gehören zu einer Minderheit, die sagt, man sollte solchen Arbeitsmigrantinnen helfen. Der Großteil der israelischen Gesellschaft meint, die sollten kommen, ihre Arbeit tun und dann wieder nach Hause gehen.
Magén: Die Regierungspolitik ist gegen diese Leute. Unsere Gesellschaft ist in diesem Punkt geteilt in zwei Ansichten zu diesem Thema. Dabei handelt es sich in der Tat nur um 35.000 Menschen. Das ist das ganze Problem. Und die Gesellschaft schafft es noch nicht einmal, so wenige Leute zu integrieren, aufzunehmen, sich darum zu kümmern, dass sie ein besseres Leben führen können. Ich weiß auch nicht, warum so heftig gegen diese Leute protestiert wird. Es finden tatsächlich auch Demonstrationen statt gegen die Einwanderer. Es gibt auch andere Demonstrationen für sie. Aber das ist Demokratie, und das muss man akzeptieren. Aber ich bin der Meinung, dass über 70 Jahre nach dem Holocaust man sehr einfühlsam mit dem Problem der Immigration umgehen muss, wenn es darum geht, dass jemand Brot zum Leben haben möchte.
Meyer: Als ich so nachdachte über diese Frage, der Staat Israel, Gerechtigkeit – mir kam auch wieder in den Sinn, dass ja bei der Gründung des Staates und in der frühen Zeit zum Beispiel in der Kibbuz-Bewegung ja diese Frage auch nach sozialer Gerechtigkeit eine ganz große und drängende Frage war. Ich frag mich, wie das heute ist. Wie ist das heute, wie stark wird diese Frage diskutiert in Israel, wie gerecht geht es eigentlich zu in unserem Land?
Magén: Ja, natürlich diskutiert man dieses Thema in Israel. Aber für das Konzept der sozialen Gerechtigkeit gibt es keine klare Antwort, keine allumfassende Antwort, da das besonders in Israel von jeder einzelnen Bevölkerungsgruppe und ihren Werten und Ideologien abhängt. Denn die israelische Gesellschaft setzt sich aus sehr vielen einzelnen Gruppen, einzelnen Stämmen, zusammen, und jede hat ihre eigene Ideologie, ihre eigenen Wertvorstellungen. Da gibt es die Ultraorthodoxen, die ganz anders sind als die Säkularen, als die Juden, die sich anders sehen als die Araber. Und so viele Gruppen haben unterschiedliche Ansichten darüber, was soziale Gerechtigkeit ist, was fair ist und was gerecht genug ist. Und demnach gibt es verschiedene Antworten, je nach Ideologie und Herkunft, und verschiedene Methoden, mit diesem Problem umzugehen.

"Die Wohnungsmärkte müssen stärker reguliert werden"

Meyer: Und was würden Sie sagen, weil Sie eben auch über solche Fragen schreiben, in Ihrem Roman "Zu blaue Augen" zum Beispiel? Was fehlt für Sie vor allem, um Israel zu einer gerechteren Gesellschaft zu machen?
Magén: Wir müssen die Ressourcen besser und gerechter aufteilen. Wir müssen außerdem mehr in die Peripherie investieren. Und es müssen mehr Mietshäuser gebaut werden. Die Wohnungsmärkte müssen stärker reguliert werden. Es ist zurzeit wirklich sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Ganz im Süden vielleicht, auf dem Land, weit weg von Tel Aviv ist es noch möglich. Aber in Zentralisrael ist es kaum noch möglich, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Also muss das Ziel sein, mehr öffentlichen Wohnungsbau zu betreiben, Mietshäuser zu schaffen, die sich die Leute auch leisten können. Und vor allem gleiche Rechte und gleich Pflichten für alle Staatsbürger einzuführen. Zurzeit gibt es das so nicht, und da ist noch viel zu tun.
Meyer: Ich möchte Sie auch noch nach einem anderen Thema fragen, das vielleicht auch zur Gerechtigkeitsfrage in Israel gehört. Es gibt ja im Moment sehr harte Konflikte mit Toten an der Grenze Israels zum Gazastreifen, beim sogenannten "Marsch der Rückkehr", für das Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge und ihrer Nachkommen nach Israel – wie es den Palästinensern geht im Gazastreifen und anderswo, ist das auch ein Teil der israelischen Debatte über Gerechtigkeit im Land?
Magén: Das hängt natürlich dann wieder von der Ideologie der einzelnen Gruppen ab. Wenn man sich die eher linksgerichtete Seite ansieht, dann würden die sagen, ja, das ist definitiv ein Problem, und das betrifft uns als Bevölkerung in Israel. Wohingegen man auf der rechten Seite sagen würde, die Palästinenser sind alle Feinde, die wollen uns zerstören, und wir können gar nicht anders, als sie wie Feinde zu behandeln. Es ist schon so, dass die aktuelle israelische Politik mich sehr traurig macht.
Meyer: Was ist gerecht? Das ist das Motto der Deutsch-Israelischen Literaturtage, die in diesen Tagen in Berlin stattfinden. Mira Magén nimmt daran teil. Sie hat den Roman "Zu blaue Augen" geschrieben, der ist bei uns im DTV-Verlag erschienen in einer Übersetzung von Anne Birkenhauer. 380 Seiten hat das Buch, der Preis ist 21 Euro. Thank you for joining us!
Magén: Thank you for inviting me!
Meyer: Und vielen Dank an Marei Ahmia. Sie hat unser Gespräch hier übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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