Schriftsteller beklagt Isolation Israels

Nir Baram im Gespräch mit Britta Bürger · 31.01.2013
Als ein "neues jüdisches Ghetto" bezeichnet der Publizist Nir Baram das heutige Israel. Der wichtigste Kampf seiner Generation sei es, in Isreal eine wirkliche Demokratie zu errichten. Den politischen Newcomer Jair Lapid, dessen Zukunftspartei zuletzt zweitstärkste Kraft geworden ist, nennt er ein "interessantes Phänomen".
Britta Bürger: Der Titel ist durchaus provozierend: "Gute Leute" heißt der jüngste Roman des israelischen Schriftstellers Nir Baram, der bereits mehrere Preise bekommen hat und in 13 Sprachen übersetzt worden ist. Es ist der erste israelische Roman, der sich mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges aus der Sicht von Kollaborateuren beschäftigt. Nir Baram ist bekannt dafür, die Welt nicht nur aus der Opfer- oder Täterperspektive wahrzunehmen - eine Haltung, die ihn zu einem gefragten Redner auch in Deutschland macht. Gerade hat er an der internationalen Konferenz zur Holocaust-Forschung in Berlin teilgenommen. Heute Abend eröffnet er den Themenraum "Israel nach der Wahl" in der Berliner Zentral- und Landesbibliothek. Herr Baram, schön, dass Sie zu uns gekommen sind, Willkommen im "Radiofeuilleton"!

Nir Baram:: Thank you very much!

Bürger: Derzeit wird in vielen Veranstaltungen an die Machtergreifung der Nationalsozialisten vor 80 Jahren erinnert. Deshalb sind Sie unter anderen gerade in Berlin, denn Sie selbst haben mit Ihrem jüngsten Roman "Gute Leute" versucht, für israelische Autoren eine neue Perspektive auf die Situation der Menschen unter Hitler und unter Stalin zu werfen, in einer Art Parallelmontage, bis sich die Lebenswege ihrer Protagonisten am Ende auf dramatische Weise kreuzen. Wie wurde dieser Roman eigentlich in Israel aufgenommen?

Baram: Die Aufnahme des Buches war sehr interessant, weil zu Beginn hatte ich dass Gefühl, dass man das Buch nicht so recht verstanden hatte. Aber wir haben in Israel Dan Miron, und das ist unser eigener Marcel Reich-Ranicki, und er schrieb dann einen sehr, sehr langen Artikel über mein Buch, der eine ganz neue Diskussion vor allem auch unter anderen Autoren auslöst, und auch eine Debatte. Und ich bin sehr stolz darauf, dass mein Buch von den Autoren ausgewählt worden ist zum besten Buch des Jahres 2010, weil das zeigt auch, dass es einen Dialog in Israel gibt und eine Offenheit, und dass man nicht mehr nur Nazitäter dämonisiert, dass man in ihnen das ewige Böse sieht, so eine Art von Science-Fiction-Nazi-Welt, sondern dass es mittlerweile eine sehr offene Art und Weise gibt, darüber zu diskutieren. Und das Buch ist sehr gut angenommen worden.

Bürger: Es geht darin ja um zwei typische Mitläufer, einen Berliner Karrieristen, Thomas Heiselberg, der sich von den Nazis dann einspannen lässt, und eine Jüdin aus Leningrad, Alexandra Weißberg, die mit regimekritischen Dichtern befreundet ist, sich dann aber doch mit Stalins NKWD einlässt, eine jüdische Kollaborateurin. Mich hat bei der Lektüre anfangs fast ein bisschen erschreckt, wie heutig Sie Ihre Figuren zeichnen. Das macht es einem natürlich auch deutlich schwerer, dieses Verhalten einzig und allein in die Vergangenheit zu schieben. Wie viel haben Ihre Romanfiguren also auch tatsächlich mit unserer heutigen Zeit zu tun?

Baram: Also klassische historische Romane, die nur in der Vergangenheit angesiedelt sind, die interessieren mich nicht sonderlich. Ich bin der Meinung, dass ein historischer Roman auch immer hin und her springen muss zwischen der Zeit, in der er spielt, und zeitgenössischen Fragen und zeitgenössischen Figuren. Nur dann finde ich das interessant - also mich interessieren überhaupt keine Geschichten mehr über irgendwelche verrückten Nazis. Das sind Geister der Vergangenheit, das sind Fantasien der Popkultur. Was mich hier bei diesem Thema viel mehr interessiert hat, ist, dass meine Figur, Thomas Heiselberg, eigentlich ein unpolitisches Wesen ist, der in Kontakt gerät oder kooperieren muss mit politischen Organisationen, die ganz stark eine Ideologie auch verkörpern. Das hat mich interessiert, dieser Widerspruch, weil: Wir haben ja alle, alle jungen Menschen, auch heute, verfügen ja über eine eigene persönliche Ethik. Und dann müssen wir diese persönliche Ethik plötzlich konfrontieren mit gewissen Organisationen, Ideologien, mit Staaten, und unsere persönliche Ethik wird einer Herausforderung unterzogen. Und das ist für mich die große Frage in meinem neuen Buch "Gute Leute", das ist die Spannung, was macht man mit seiner persönlichen Ethik, wenn man anderen äußeren Kräften ausgesetzt ist. Und meine Figur in diesem Buch, Thomas, versucht, zu kooperieren; der versucht zu überleben, und er versucht natürlich auch, sein Talent auszuleben. Für mich der ganz entscheidende Unterschied zwischen einem totalitären Regime und dem Kapitalismus liegt ganz einfach darin, dass im totalitären Regime von den einzelnen Menschen auch eine absolute Loyalität verlangt wird. Das ist im Kapitalismus anders, der funktioniert ein bisschen inklusiver, da kann man sich auch ein bisschen mehr von lösen. Und Thomas beispielsweise, er ist jemand, der auf der einen Seite diesem System kritisch gegenübersteht, es aber letztendlich dann doch bedient. Und das ist für mich eine sehr interessante und vor allen Dingen auch eine sehr zeitgenössische Frage.

Bürger: Der israelische Schriftsteller Nir Baram ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur, einer der wichtigsten Autoren der jüngeren Generation, der einen anderen Weg eingeschlagen hat als sein Vater und sein Großvater; beide waren nämlich Minister aus den Reihen der Arbeiterpartei. Sie selbst, Herr Baram, haben sich gegen eine politische Karriere entschieden, sind jedoch ein gefragter politischer Kommentator, auch ein offener Kritiker der Regierung Netanjahu. Die hat jetzt gerade bei den Wahlen in der vergangenen Woche herbe Verluste einstecken müssen, wird voraussichtlich aber doch eben die neue Regierung bilden. Was erwarten Sie davon? Sie waren vor den Wahlen sehr desillusioniert. Hat sich daran jetzt irgendetwas geändert?

Baram: Also erstens, ich wollte wirklich nie Politiker werden, und ich habe meiner Mutter als Junge versprochen: Ich werde nie Politiker. Und das ist ein Versprechen, das ich halte. Für mich habe ich nur etwas geschafft, wenn ich diese Welt Stein um Stein jeden Tag neu bauen kann. Nun gibt es natürlich in der vorherigen Generation unglaublich wichtige Intellektuelle und Schriftsteller wie Abraham B. Jehoshua, und dann natürlich Amos Oz, und das hat natürlich auch eine jüngere Generation beeinflusst, die sich kritisch und auch radikal mit dem politischen System in Israel auseinandersetzt.

Was jetzt Netanjahu betrifft: Ich würde mich gar nicht so sehr als der große Netanjahu-Kritiker bezeichnen. Dazu ist er mir viel zu unwichtig, er ist einfach nicht tief genug, als dass ich mich nun besonders ausführlich mit jemandem wie Netanjahu auseinandersetze. Ich finde eher interessant diesen Widerspruch zurzeit in Israel zwischen dem jüdischen Staat und einem demokratischen System. Und das ist für mich die größte Herausforderung, in der Israel heutzutage lebt. Das ist das große Problem der israelischen Gesellschaft. Netanjahu ist mehr so wie ein Clown vor dem Lager, und ich interessiere mich mehr für das, was innerhalb des Lagers passiert als für diesen Clown, der vor diesem Lager rum hüpft. Was mich interessiert, ist eben eine neue Vision. Ich möchte nicht, dass es nur einen jüdischen Staat gibt, in dem die Juden sozusagen die führende Rolle ausüben, sondern ich interessiere mich für eine gleichberechtigte Gesellschaft, gleichberechtigt zwischen Juden, zwischen Palästinensern aber auch beispielsweise zwischen Gastarbeitern, die in dieses Land gekommen sind. Und Netanjahu ist jemand, der beispielsweise den Holocaust einfach nur für seine Ziele benutzt, und ich schäme mich dafür, wie er das tut, und auch viele Israelis schämen sich dafür, wie er das ausnutzt, und wie er die Echos auch vom Holocaust ausnutzt. Das hat dieses Thema einfach nicht verdient, so einseitig mit ihm umzugehen.

Bürger: Sie haben den Begriff Lager gerade verwendet, sicher nicht zufällig. Sie haben auch schon häufiger von Israel als dem jüdischen Ghetto gesprochen. Wie nimmt man solche Äußerungen von Ihnen in Israel wahr?

Baram: Noch stehe ich nicht auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums, aber ich stehe natürlich voll zu dem, was ich da immer wieder sage: Ich bin der Meinung, dass es eine Debatte innerhalb Israels gibt. Und Juden, die nicht in Israel leben, die können sich das vielleicht nicht so genau vorstellen, was es bedeutet, unter Netanjahu zu leben, was es bedeutet, in einem Land zu leben, was sich auch isoliert hat. Und ich bin der Meinung, dass wir uns gerade ein neues jüdisches Ghetto in Israel gebaut haben, mit Mauern, und allem, was dazu gehört. Und ich bin Patriot, aber ich bin ein Patriot für die israelische Gesellschaft, und die sehe ich als multiethnisch, als multikulturell, in der auch religiöse Belange respektiert werden.

Aber das ist etwas, um das ich kämpfe, das ist meine Vision einer inklusiven israelischen Gesellschaft, die niemanden ausschließt, indem die Juden nicht sozusagen die Leitkultur verkörpern. Dieses Modell, was ich favorisiere, ist natürlich ein problematisches Modell, weil jedes Modell an sich schon problematisch ist, aber ich plädiere für eine offene israelische Gesellschaft, in der es keine Mauern gibt, in der man keine Angst hat vor den Palästinensern, vor den Arabern, vor den Syrern, und für mich ist das auch der wichtigste Kampf unserer Generation, für eine wirkliche Demokratie in Israel zu kämpfen, für eine wirklich offene Gesellschaft.

Bürger: Überraschender Sieger der Wahl ist ja die neue Mitte-Rechts-Partei Jesch Atid, was soviel bedeutet wie: Es gibt eine Zukunft! An der Spitze steht der Journalist Yair Lapid, seine Partei ist jetzt die zweitstärkste Kraft im israelischen Parlament. Kann er denn etwas von dem einlösen, was Sie sich unter einer offenen demokratischen Gesellschaft vorstellen? Er hat ja enormen Zuspruch bekommen.

Baram: Natürlich wird Yair Lapid nicht sofort für eine offene israelische Gesellschaft plädieren, aber er ist natürlich ein interessantes Phänomen, und man stellt mir zurzeit in Deutschland, aber auch in den Niederlanden, sehr, sehr viele Fragen zu ihm, gerade auch, was seine Haltung zur Okkupation der besetzten Gebiete anbetrifft. Und ganz ehrlich, daran wird sich überhaupt nichts ändern unter Lapid. Die Wähler negieren dieses Problem der Besetzung einfach, und Lapid ist dafür auch ein Symbol. Aber Lapid ist natürlich fotogen, er ist sexy, er ist jetzt nicht unbedingt der ernsthafteste Politiker.

Trotzdem möchte ich etwas Positives über Lapid sagen: Er hat es geschafft, dass Netanjahu alt aussieht, in seiner Sprache, in seinem Duktus, mit seinen Themen, wenn er immer noch von der Bibel redet, vom König David, vom Holocaust, von Israel 1948, von den Ängsten, dass die Araber alles zerstören. - Lapid lehnt diesen Diskurs eigentlich ab. Er ist da ein europäisch-amerikanisch denkender Pragmatiker, der Themen wie Bildung, Wohnungsbau, Löhne, so etwas in den Vordergrund stellt, und er lässt Netanjahus Sprache einfach alt aussehen. Insofern verkörpert er durchaus das neue Israel und die neue israelische Gesellschaft, und das finde ich wiederum ganz gut. Und das ist ja oft so, dass, wenn man nur die Wahl hat zwischen zwei Übeln, dann würde ich in dem Falle doch das kleinere Übel wählen, und das ist in jedem Fall Lapid.

Bürger: Der israelische Schriftsteller Nir Baram. Herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch!

Baram: Thank you very much, I was happy to be here!

Bürger: Und das jüngste Buch von Nir Baram, "Gute Leute", ist im Hanser Verlag erschienen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Nir Baram: "Gute Leute"
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Hanser Verlag, München 2012, 464 Seiten, 24,90 Euro

Links auf dradio.de:

"Wir hätten auf beiden Seiten Mehrheiten für den Frieden" - Der Grünen-Politiker Jerzy Montag zum Ausgang der Wahl in Israel
Die Modernität der Mitläufer - Nir Barams "Gute Leute" besprochen von Marko Martin
Mehr zum Thema