Schrei nach Gerechtigkeit in Indien

Von Kai Küstner, Neu Delhi · 03.01.2013
Die Diagnose ist leider so ernüchternd wie richtig: Indische Frauen leben im Patriarchat, Männer dominieren das gesellschaftliche Leben. Frauenfeindlichkeit ist in das öffentliche Bewusstsein so eintätowiert, dass es Jahre, jahrzehntelanger kosmetischer Feinarbeit bedarf, um diesen hässlichen Aspekt indischer Kultur unsichtbar zu machen.
Beispiele gefällig? Das beginnt mit - teilweise schon vor - der Geburt: Weibliche Föten werden massenweise abgetrieben. Dem männlichen Nachwuchs hingegen wird im Grunde schon mit der Muttermilch die Botschaft verabreicht, dass er der eigentliche Stolz der Familie ist. Und so fühlt sich der dann auch - ein Leben lang. Das erklärt zum Beispiel, dass angesichts anderer Vergewaltigungsfälle Familien auf die absurde Idee kommen, die weiblichen Opfer mögen die Täter doch bitte heiraten, dann bleibe die Ehre gewahrt und man könne dann auch nicht mehr von sexueller Gewalt sprechen. Oder - natürlich männliche - Analysten meinen, Vergewaltigungsfälle mit der Aufnahme von zu stark gewürzter Nahrung von Seiten der Männer erklären zu können. Und das Problem mit einer entsprechenden Diät also beheben zu können.

So weit, so schlecht. Für deutsche Arroganz oder kulturelle Herablassung nach dem Motto: "Die Inder leben ja noch im Mittelalter, wir dagegen haben es geschafft und sind Avantgardisten in Sachen Frauenrechte", gibt es überhaupt keinen Anlass. Zu vertraut klingt dafür der Vorschlag eines rechtsnationalen indischen Politikers: Frauen sollten doch bitte keine Röcke mehr tragen, um Männer nicht zu provozieren. Diese Art von Täter-Opfer-Verdrehung gab und gibt es in Deutschland genauso. Und der Schrei nach dem Henker, nach Kastration oder Schlimmerem ist eine Melodie des Todes, die genauso gerne auf dem deutschen Boulevard angestimmt wird.

Indien ist ein Land der Kontraste: Bald will es zum Mars fliegen, während unten am Boden tonnenweise Getreide verrottet und Menschen Hunger leiden. Rasend schnell wächst es wirtschaftlich zum Weltgiganten heran, politisch hält es seit Jahrzehnten auf beeindruckende Weise trotz widrigster Umstände an der Demokratie fest - aber kulturell fühlt man sich auf unangenehmste Weise oft an die Zeiten der Königin Viktoria erinnert. Und das gilt eben auch für die Geschlechterrollen.

Immerhin fängt das Land der zwei Geschwindigkeiten nun - ganz langsam - an, auch in diesem Bereich aufzuholen. Aufgerüttelt durch die barbarische Tat treibt es Frauen und Männer seit Wochen tagtäglich auf die öffentlichen Plätze der Hauptstadt. Und dort wird eben nicht mehr nur "Hängt Sie!" geschrien. Angetrieben und unterstützt durch die seriösen Medien hat die Debatte eine Wendung genommen: leiser ist sie geworden, aber dafür tiefer. Mithilfe dieser Debatte nimmt sich das Land sehr genau selbst unter die Lupe. Und gelangt zu der Diagnose: Ja, wir sind eine frauenverachtende Gesellschaft. Das mag für den Moment nicht eben ermutigend klingen. Aber immerhin ist die Diagnose schon mal gestellt. Ein Riss, wenn auch ein winziger, tut sich auf in den bislang einbetoniert scheinenden Geschlechterrollen. Auch wenn es noch eine ganze Weile dauern wird, bis das archaische Gebäude einstürzt.


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