Schmaler Grat zwischen Rechtsstaat und Totalitarismus

Olaf Möllers im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 22.08.2013
Der Staatsrechtler Olaf Möllers hat die Bundesregierung im Prozess um die Vorratsdatenspeicherung vor dem Verfassungsgericht vertreten. Heute sagt er, die Maßnahme war "schon ein großer Eingriff in die Freiheitsrechte", aber harmlos im Vergleich zu der Situation, die die NSA-Abhöraffäre enthüllt hat.
Stephan Karkowsky: Der sogenannte Krieg gegen den Terror ist auch zwölf Jahre nach Nine Eleven noch ein Totschlagargument. Demokratien wie Großbritannien entrechten damit ihre Bürger und sogar andere Staatsangehörige. Nehmen sie den Brasilianer David Miranda, der ist nichts weiter als der Lebensgefährte des Journalisten und Snowden-Vertrauten Glenn Greenwald. Dennoch wurde er am Londoner Flughafen Heathrow neun Stunden lang vom britischen Geheimdienst verhört wie ein Terrorverdächtiger. Das britische Enthüllungsblatt "The Guardian" musste unter anderem die Festplatten mit den Snowden-Files zerstören, unter Aufsicht des Geheimdienstes.

Ob die Terroristen damit nicht eigentlich den Krieg der Demokraten gegen den Terror längst gewonnen haben, weil unsere Welt ein Stück weit unfreier geworden ist, das will ich mit Professor Doktor Christoph Möllers besprechen, er ist Staatsrechtler an der Berliner Humboldt-Universität. Herr Möllers, guten Tag!

Christoph Möllers: Tag, Herr Karkowsky!

Karkowsky: Oder sagen Sie jetzt, der Staat hat die Pflicht, alle Mittel einzusetzen, um seine Bürger zu schützen, egal, wie vage die Bedrohung ist?

Möllers: Nein, nein, der Staat hat natürlich nicht die Pflicht, alle seine Mittel einzusetzen, das wäre uferlos und würde am Ende auch niemandem was bringen. Ich denke, die Frage ist eher, auch ein bisschen eine Frage an uns alle natürlich, inwieweit wir bestimmte Risiken in Kauf zu nehmen bereit sind, auch einfach, weil wir in einer total überwachten Gesellschaft nicht leben würden, nicht, aber …

Karkowsky: Und Sie selbst wägen das ja auch sehr genau ab. Sie haben ja als Prozessbevollmächtigter die Bundesregierung vertreten im Prozess um die Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht. Das war offenbar eine staatliche Schutzmaßnahme, die Sie als noch gerechtfertigt empfunden haben?

Möllers: Das war eine harte Maßnahme, das muss man ganz klar sagen, in der es schon darum ging, das sehr, sehr viele Daten nicht beim Staat, sondern bei den Telefonunternehmen jedenfalls für eine bestimmte Zeit gespeichert würden. Das kann man nicht kleinreden, dass das ein großer Eingriff war.

Ich glaube, der Witz an der Maßnahme oder das, was wahrscheinlich noch gerechtfertigt war, dass man vorhersehen konnte, für welche Bedrohung beziehungsweise für welche Straftaten diese Informationen dann tatsächlich vom Staat eingesehen werden konnten. Das war relativ …

Karkowsky: Und dass sie nicht missbraucht werden, das war klar.

Möllers: Und dass sie nicht missbraucht werden, das war relativ klar geregelt, und man muss sagen, die Missbrauchsfälle, soweit sie selbst vom Datenschutzbeauftragten sozusagen beobachtet wurden, kamen erst mal bis dahin nicht vor. Aber auch das soll man nicht bagatellisieren, auch das war natürlich schon ein großer Eingriff in die Freiheitsrechte.

Karkowsky: Hat sich denn Ihre Haltung dazu geändert oder ist sie noch die gleiche?

Möllers: Also ich muss sagen, ich kämpfe immer noch damit, was ich letztlich darüber denken soll. Aber ich muss auch sagen, so im Vergleich zu dem, was wir jetzt so sehen, ist es dann doch irgendwie, kommt es mir ja doch noch relativ harmlos vor. Weil zumindest die Vorhersehbarkeit, also die Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger, nachzuvollziehen, in welchen Fällen der Staat hier mal sozusagen zugreift in diese Verbindungsdaten, doch gewährleistet war. Und das ist jetzt natürlich in den Fällen, die wir jetzt sehen, nicht mehr zu sehen. Wir wissen ja eigentlich gar nicht wirklich, was da passiert.

Karkowsky: Man hatte ja bisher den Eindruck, dass der sogenannte Krieg gegen den Terror wirklich auch gegen mutmaßliche Terroristen gerichtet war, und jetzt richtet er sich zum Teil gegen die eigenen Bürger. Da gibt es den Vorwurf der massenhaften Bespitzelung durch die NSA, und anderes geht gegen Leute wie Bradley Manning – 33 Jahre Haft –, Julian Assange Zwangsasyl in der Botschaft Ecuadors und natürlich Edward Snowden, geflohen nach Russland. Und selbst Präsidentenmaschinen wie die von Evo Morales aus Bolivien sind nicht mehr sicher vor dem Zugriff der Sicherheitsdienste. Wie bewerten Sie das aus rechtsstaatlicher Sicht?

Möllers: Ich denke, man muss es unterschiedlich bewerten. Man muss vielleicht auch klar machen, das macht die Situation noch besonders schwierig, dass wir zum Beispiel in Kontinentaleuropa wahrscheinlich uns an anderen Dingen stören als die amerikanischen Bürger. Also für die Amerikaner ist, glaube ich, so ein bisschen – der Skandal liegt im Moment bei der NSA-Affäre der Skandal vor allem darin, dass Telefonverbindungsdaten von Amerikanern tatsächlich auch abgegriffen werden. Nicht so sehr darin, dass die Amerikaner sagen, im Kampf gegen den Terrorismus die Information, auch Internetinformation von Fremden, von Nichtamerikanern abfragen.

Für uns liegt der Skandal natürlich reziprok eher darin, und wir haben dann, glaube ich, auch noch mal etwas andere Vorstellungen auch deswegen natürlich, weil die ganze Sache ziemlich asymmetrisch verläuft. Auslandsgeheimdienste haben immer schon Informationen getauscht, das ist klar, das war immer so ein bisschen der Deal, dass sie zwar ihre eigenen Bürger nicht bespitzeln dürfen, aber dass sie natürlich die Informationen, die andere Auslandsdienste über die eigenen Bürger haben, im Zweifelsfalle auch bekommen können. Das ist nichts ganz Neues.

Auch das Abfragen von transatlantischen Telefonleitungen ist etwas, was wir seit Langem kennen, das ist schon Ende der 90er-Jahre vom Bundesverfassungsgericht überprüft, eingeschränkt worden zumindest. Aber wir sind jetzt sozusagen an dem Punkt gelangt, wo selbst diese vorläufige Übersichtlichkeit, könnte man das nennen, jetzt doch in der Tat verloren gegangen ist, weil im Grunde alle alles zu wissen scheinen.

Karkowsky: Und diese Jagd der Obama-Regierung auf Informanten und auch das Festhalten von einfach nur einem Angehörigen von einem Journalisten, der wiederum mit einem Aufklärer gesprochen hat – hat nicht das im Grunde genommen eine neue Qualität erreicht damit?

"Einschüchterungsgesten – "nur um mal zu zeigen, was der Staat so kann""
Möllers: Auch da, denke ich, gibt es verschiedene Stufen. Es ist klar, dass jemand, der als Soldat Informationen verrät, die ihm sozusagen im Militärdienst zugewiesen wurden, wie das im Fall von Manning war, dass der irgendwie bestraft wird, ich glaube, das … – wir können und schwer eine Ordnung vorstellen, in der das nicht passieren würde. Nicht so hart vielleicht, aber dass er bestraft wird, das, denke ich, ist klar.

Es ist dann noch mal eine andere Frage, ob man sozusagen Journalisten und deren Angehörige, die im Grunde erst einmal die Informationen von Leuten, die diese Straftaten begangen haben, aus dieser Hand bekommen haben, und wie man die behandelt. Und da, in der Tat, finde ich es schon auch stark irritierend, nicht nur, dass das überhaupt was passiert, sondern auch die Art und Weise, wie es passiert, weil es ja eigentlich so ein bisschen Einschüchterungsgesten sind. Es ist gar nicht irgendwie ein Verfahren mit einer Verfolgung, sondern da kommen zwei Geheimdienstler in die Redaktion vom "Guardian" und lassen da mal Festplatten vernichten – was rein symbolisch ist, weil alle wissen, es gibt mehrere Kopien davon. Nur, um mal zu zeigen, dass sie so stark sind. Oder da wird mal jemand bis an die Grenze des gesetzlich Erlaubten am Flughafen festgehalten, nur um mal zu zeigen, was der Staat so kann.

Man glaubt nicht, dass das funktional ist, dass das sozusagen noch einem Zweck dient, der irgendwie Information erhalten soll. Das ist relativ eindeutig, dass das symbolisch ist. Und das finde ich schon besorgniserregend, weil es eigentlich so eine Geste ist, die man von einem irgendwie rechtlich geregelten öffentlichen Hoheitsträger nicht erwartet.

Karkowsky: Sie hören den Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers. Herr Möllers, ab wann wird es denn totalitär?

Möllers: Tja, ab wann wird es totalitär? Ich glaube, wir ringen damit noch so ein bisschen, ob das zurzeit totalitär ist, wir wissen es selbst nicht. Es wird natürlich eigentlich schon in dem Augenblick totalitär, in dem wir das Gefühl haben, dass wir keine Räume mehr haben, in denen wir für uns kommunizieren können. In dem diese Räume irgendwie verschwinden. Und das hat etwas zu tun damit, was der Staat tut, das hat auch damit etwas zu tun, was Bürger selbst vom Staat erwarten. Vielleicht ist ihr Sicherheitsbedürfnis zu groß. Wir hatten ja schon andere Terrorismuserfahrungen in den 70er-Jahren, die haben wir auch bewältigt. Da sind Menschen umgekommen, das ist schrecklich gewesen, aber wir haben sozusagen nicht alles umgekrempelt deswegen. Und es hat etwas damit zu tun, wie die Technologien natürlich auch wechseln. Weil es klar ist, dass diese Art von flächendeckender Überwachung wahrscheinlich nur mit digitaler Kommunikation möglich sind. Und das kommt alles irgendwie zusammen erst mal.

Karkowsky: Haben Sie denn den Eindruck, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden derzeit im Einklang mit dem Sicherheitsbedürfnis ihrer Bürger handeln, wenn sie Snowden verfolgen zum Beispiel, wenn sie Assange festsetzen, wenn sie David Miranda festhalten?

Möllers: Ich habe den Eindruck, dass es da erst mal, glaube ich, noch mal auch sozusagen zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Welt unterschiedliche Vorstellungen gibt, das ist relativ klar. Also ich glaube, wir sind dann vielleicht auch gar nicht mehr der Westen, sondern vielleicht sehen wir das in Deutschland auch anders, als man das in Amerika sieht. Ich hab aber auch den Eindruck, dass England da besonders ist, ich glaube, dass sozusagen – gerade die Pressefreiheit wird in Amerika wahrscheinlich dann doch noch besser geschützt als in Großbritannien, also da haben wir noch mal eine Unterscheidung, und dann wird es auf einmal sehr kompliziert. Dann können wir sagen, wir sind zwar dagegen, aber andererseits, wenn dann mal was passiert, fragen wir dann doch die Amerikaner, ob sie uns helfen können. Und das ist ja in der Tat auch schon passiert.

Karkowsky: Für all die, die jetzt das Gefühl haben, dass Freiheitsrechte massiv eingeschränkt werden, und zwar unverhältnismäßig, weil die Gefahr durch den Terror von Manchen einfach als nicht so groß´empfunden wird, dass das gerechtfertigt wäre – kann man daraus den Schluss ziehen, die Terroristen haben den Krieg im Prinzip gewonnen, weil sie erreicht haben, was sie wollten, dass wir uns unsicher fühlen, dass unsere Freiheitsrechte beschränkt werden?

Möllers: Ich glaube, wir haben verloren, aber sie haben nicht gewonnen. Also ich meine, sie wollten schon was anderes, oder die Art von islamistischem Terror, die wir da sehen, die hat natürlich schon relativ definierte politische Ziele, die auch erst mal wahrscheinlich gar nicht so konkret auf Europa ausgerichtet sind, sondern die das sozusagen nur so mitnehmen. Aber wir haben wahrscheinlich schon was verloren, das ist klar. Und die Frage ist, wie wir darauf reagieren. Ich glaube, es ist ein ziemliches Unglück, dass die ganze Enthüllung in den Wahlkampf geraten ist. Weil die Probleme doch so strukturell sind und auf so vielen Ebenen spielen, dass man sich über die Problemanalyse vielleicht sogar einig werden könnte. Und mal gucken könnte, was man tut, das müsste man wahrscheinlich auch auf europäischer Ebene tun. Dafür ist die Bundesrepublik als solche zu klein. Das sozusagen so zu politisieren, führt eigentlich nur dazu, dass alle blockieren und die Diskussion nicht weitergeführt wird. Man kann insofern nur hoffen, dass das Problem sozusagen auch noch nach der Bundestagswahl auf Interesse stößt.

Karkowsky: Wir werden um zehn vor vier über das Thema auch mit unseren Hörern debattieren, und ich bin sicher, da wird es auch welche geben, die sagen, die Diskussion darüber ist auch deshalb so schwierig, weil keiner von uns wirklich sagen kann, was denn passiert wäre, wenn es die Antiterrorgesetze nicht gäbe, wenn man all diese Maßnahmen nicht durchführen würde. Und eben deshalb wird ja jeder Verweis auf eine Bedrohung dann zum Totschlagargument. Gibt es eine Lösung für diesen Konflikt.

Möllers: Eine endgültige Lösung gibt es nicht, denn wie jede Regulierung hat mit Unsicherheiten zu kämpfen, aber es fällt schon auf, gerade auch jetzt in der NSA-Affäre, dass die von den Behörden genannten Fälle, die abgewehrt wurden, ziemlich mager waren. Da wurden letztendlich zwei Fälle jetzt nur genannt, und die Zurechnung zu den Ermittlungsmaßnahmen war ziemlich unklar, also das war eigentlich in der amerikanischen Presse eigentlich ziemlich einhellig, dass man sagen würde, na ja, wenn es das war, dann hat sich der Aufwand wahrscheinlich nicht gelohnt.

Karkowsky: Haben Sie denn den Eindruck, dass der Staat deutlich genug unterscheidet zwischen denen, die ihn wirklich angreifen wollen, also mit terroristischen Mitteln, und denen, die einfach nur aufklären?

Möllers: Na ja, das tut er in der Sekunde, in der er auf Journalisten zugreift, sicherlich nicht mehr. Das würde ich auch denken. Wir haben ja auch in Deutschland nicht weniger spektakuläre Fälle, aber wir haben immer mal wieder Fälle, in denen es darum geht, wie Staatsanwaltschaften Zugriff auf Informationen von Redaktionen nehmen können. Und ich glaube, wir müssen an der Front erst mal aufmerksam sein jedenfalls. Ich würde im Moment noch sagen, wir können hier einen öffentlichen Diskurs führen, den fühle ich jetzt noch nicht so in der Form bedroht. Aber klar, die Entwicklung, auch eine Entwicklung, die dahin geht, dass auch die Medien selbst digitalisiert werden auf Dauer, ist natürlich eine Entwicklung, bei der man schon sehr vorsichtig sein muss.

Karkowsky: Wie der sogenannte Krieg gegen den Terror zur Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit führen kann, dazu hörten Sie den Berliner Staatsrechtler Professor Doktor Christoph Möllers. Ihnen Danke für das Gespräch!

Möllers: Ich danke auch!

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